Der Heimjunge Cyril wartet auf seinen Vater. Unter dem Vorwand, sein Fahrrad wieder zu bekommen, versucht er ihn telefonisch zu erreichen – vergeblich. Als der Junge sich eines Tages aus dem Heim schleicht, um seinen Vater zu suchen, trifft er auf die Friseurin Samantha. Er klammert sich an sie, um nicht mehr zurück in das Heim zu müssen. Und tatsächlich beginnt Samantha von nun an, Cyril an den Wochenenden bei sich zu Hause aufzunehmen. Nachdem sie Cyrils Vater ausfindig gemacht haben, ist unmissverständlich klar, dass dieser keinen Kontakt mehr zu seinem Sohn haben will. Cyril ist niedergeschlagen und wird aggressiv. Dennoch hält Samantha weiter zu ihm – selbst als er sich mit einem Jugendlichen aus der Gegend einlässt, der als Drogendealer und Kleinkrimineller gilt.
Wie
L'enfant (Belgien, Frankreich 2005) und Le
Silence de Lorna – Lornas Schweigen (Belgien, Frankreich, Deutschland, Italien 2008) besticht auch der neue Film der Brüder Dardenne durch seine realistische Darstellung, seine Menschlichkeit und die große Nähe zu den Figuren. Fast ausnahmslos wird aus der Perspektive von Cyril erzählt, wobei die Kamera das Geschehen in langen Einstellungen betrachtet und sich dabei mit ihm auf Augenhöhe befindet. Auch auf einen klassischen
Score verzichtet der Film weitestgehend. Nur in sehr wenigen Szenen erklingt eine kurze Melodie, die dadurch umso bedeutsamer wirkt und die Situation des Jungen kommentiert. Mit dem Fahrrad schließlich – es ist das einzige, was ihm von seinem Vater geblieben ist – unterstreicht der Film zudem symbolisch die stetige Suche von Cyril nach Liebe und Geborgenheit.
Dass der Junge diese Nähe ausgerechnet bei einer Fremden findet und nicht in seiner Verwandtschaft, macht das Drama so bedrückend und regt zur Auseinandersetzung an. Die ruhige und zurückhaltende Erzählweise des Films, die dem Publikum Raum lässt für eigene Gedanken und Erklärungen, sollte dabei in die Interpretation einbezogen werden. Vor allem Cyrils Sehnsucht nach Menschen, denen er vertrauen kann, sowie die großen Enttäuschungen, die er aushalten muss, können im Unterricht als Anlass für ein Gespräch dienen. Fast ein wenig märchenhaft wirkt Samantha dabei, weil ihr Motiv, sich um Cyril zu kümmern, nicht erläutert wird und sie ihm alle Fehler vergibt. Aber somit kommt der Film auch zu einem pragmatischen Schluss. Nicht psychologische Erklärungen sind wichtig, sondern wie jemand tatsächlich handelt.
Autor/in: Stefan Stiletto, 02.02.2012
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