Erwartungsvoll tritt der junge Gelehrte Walentin im Sommer 1910 eine Stelle als Sekretär des weltberühmten Schriftstellers Lew Nikolajewitsch Graf Tolstoi an. Als "Tolstojaner" gehört er einer Bewegung an, die von den Werken Tolstois inspiriert wurde, und fühlt sich dem Ideal eines besitzfreien, keuschen Lebens im Kollektiv verpflichtet. Unverhofft gerät er jedoch zwischen die Fronten eines leidenschaftlichen Ehekriegs. Tolstois engster Vertrauter Tschertkow bedrängt diesen, sein Testament zu ändern. Nutznießer der Verwertungsrechte an seinen Büchern soll nicht Ehefrau Sofia, sondern das russische Volk sein. Sofia aber kämpft ungestüm um ihr Erbe – und um die Liebe ihres Mannes. Schließlich entzieht sich Tolstoi den Querelen und begibt sich, umlagert von Anhängern und Presse, auf eine letzte Reise. Auch Walentins Prinzipien geraten ins Wanken, denn er hat sich zum ersten Mal richtig verliebt.
Basierend auf Jay Parinis biografischem Roman konzentriert sich
Ein russischer Sommer auf die letzten Lebensmonate des Schriftstellers, der im November 1910 starb. Regisseur Michael Hoffmann verdichtet die komplexe Literaturvorlage zu einem hochemotionalen Diskurs über den Dissens von Ideal und Wirklichkeit. Die Inszenierung setzt auf großes Gefühlskino und melodramatisches Pathos, bleibt jedoch Dank des herausragenden Schauspielerensembles glaubwürdig. Fahles Sommerlicht und ein authentisches Setting grundieren die spannungsgeladene Atmosphäre auf dem Tolstoi'schen Landsitz. Verstärkt wird die innere Dynamik der Szenen durch fließende
Kamerabewegungen, die leichthändig zu einem ebenso poetischen wie einfühlsamen Zeitbild
montiert wurden.
Spannt der Film auch keinen weiten biografischen Bogen, eröffnet seine Ausdruckskraft doch leichten Zugang zu dem Lebenswerk eines ungewöhnlichen Schriftstellers. Tolstoi, der in seinen späten Jahren zum Verfechter einer christlich facettierten Lehre der Nächstenliebe und Besitzfreiheit wurde, verstand Literatur als Werkzeug zur Volksbildung. Für den fächerübergreifenden Unterricht ergeben sich interessante Möglichkeiten, das umfassende Werk des Autors im historischen Kontext zu dem von revolutionären Unruhen erschütterten Russland zu betrachten. Nicht zuletzt bieten die im Film thematisierten Konflikte – die Konstruktion von Idolen, das Auseinanderklaffen von Ideologie und Wirklichkeit – für Heranwachsende reichlich Diskussionsstoff, um sie mit eigenen Erfahrungen der Persönlichkeits- und Meinungsbildung zu vergleichen.
Autor/in: Ula Brunner, 28.12.2009
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