Machen Sie einen Test. Fragen Sie einen Passanten oder eine Passantin um die 40 nach dem vollständigen Namen von Pippi Langstrumpf und ein erheblicher Anteil sollte ihnen den linguistischen Bandwurm problemlos referieren können: Denn Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraims Tochter Langstrumpf gehört zum Kanon der heutigen Elterngeneration wie Das Dschungelbuch oder die Augsburger Puppenkiste. Vor allem die erste Verfilmung von 1969 mit der sommersprossigen Inger Nilsson in der Hauptrolle prägte das Bild von Pippi Langstrumpf; mehr noch als die originalen Bücher von Astrid Lindgren aus den 1940-er Jahren. Die Wiederaufführung des Films anlässlich des 100. Geburtstags von Astrid Lindgren (geboren am 14. November 1907) ist also in zweifacher Hinsicht geschickt terminiert: Endlich können Eltern (und Lehrkräfte) die eigene Kindheit im Beisein des Nachwuchses rekapitulieren.
Natürlich kann der Film von Olle Hellbom sein Alter von beinahe vier Jahrzehnten nicht verleugnen. Vor allem die Filmtricks wirken im Vergleich zu den computeranimierten modernen Special Effects geradezu rührend und der gesamte Erzählrhythmus strahlt eine fast nostalgische Gemütlichkeit aus. Dass das freche Mädchen mit den roten Zöpfen und den riesigen Schuhen ausgerechnet Ende der 1960-er Jahre den Weg auf die Leinwand fand, ist kein Zufall. Lindgren hatte geradezu prophetische Fähigkeiten bewiesen: Keine andere Kinderbuchfigur brachte den rebellischen und emanzipatorischen Geist der Zeit so auf den Punkt. Pippi, die im Regen die Blumen gießt, sich weigert zur Schule zu gehen und die Goldstücke ihres Piratenkapitän-Vaters in Bonbons und Limonade umsetzt, brachte die Anarchie im Alltag nicht nur in ein kleines schwedisches Dorf, sondern auch in die bundesdeutschen Kinderzimmer. So wollte man leben: Ein Pferd auf der Terrasse, einen Affen auf der Schulter und niemanden im Haus, der einem sagt, wann man ins Bett zu gehen hat. Und stark genug, um den selbstbestimmten Lebensstil gegen alle Angriffe, dumme Polizisten oder dusselige Diebe, behaupten zu können.
"Meine Mutter ist im Himmel und mein Vater in der Südsee", verkündet Pippi und schwindelt aus Prinzip und nur so zum Vergnügen. Da hat die bürgerliche Wirklichkeit keine Chance und schaut nur ab und zu vorbei in Gestalt von Fräulein Prysselius, die Pippi unbedingt ins Kinderheim stecken will. Aber hier, in dieser heilen Welt, reicht eine Falle aus Farbeimern, um sie wieder zu vertreiben: Begossen und bekleckert schleicht die gedemütigte Autorität wieder von dannen. Geradezu beispielhaft, wenn auch humoristisch aufbereitet, werden Konflikte zwischen Kindern und Erwachsenen durchdekliniert. So bebildert der Film nicht nur die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der ausgehenden 1960-er Jahre, sondern kann heute noch als Anstoß zu einer näheren Beschäftigung mit zeitlosen Themen dienen: Emanzipation von Autoritäten, kindliche Selbstbestimmung, moderne Erziehungsmethoden und die Auflehnung gegen fragwürdige Gesellschaftsregeln und überholte Traditionen.
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Autor/in: Thomas Winkler, 24.10.2007