Im Frühjahr 1945 kommen hunderte Frauen, die aus Konzentrationslagern befreit wurden, im schwedischen Malmö an. In einer zeitgenössischen Wochenschau ist dieser Moment festgehalten. Bei seiner Recherche zu dem Archivfilm stößt der Filmemacher Magnus Gertten auf die erstaunlich gut dokumentierten Lebensgeschichten von Nadine Hwang und ihrer Partnerin Nelly Mousset-Vos. Nadine, eine Chinesin mit Kontakten ins Pariser Künstlerinnen-Milieu, und die belgische Opernsängerin Nelly lernten sich im Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück kennen. Sie verliebten sich, wurden durch Nellys Deportation in ein anderes Lager getrennt, fanden nach der Befreiung wieder zueinander und emigrierten nach Venezuela. Dort lebten sie als Paar, wollten ihre Geschichte gar publizieren. Für Nellys Familie in Europa, die regelmäßig in Venezuela zu Besuch war, waren sie allerdings bloß "Freundinnen" oder "Kusinen".
Die Dokumente dieser queeren Biografien – Fotos,
Super-8-Filme, Briefe und Tagebücher sowie Tonaufnahmen – lagen lange Jahre unbesehen im Haus von Nellys Enkelin Sylvie. Der
Dokumentarfilm von Magnus Gertten macht sie sichtbar und filmt zugleich Sylvies zögerliche Annäherung an die familiär nicht anerkannte Vergangenheit ihrer Großmutter. "Sehr viele dieser Geschichten sind für immer verloren", sagt die Schriftstellerin und Literaturhistorikerin Joan Schenkar im Film zu Sylvie. "Denn obwohl die Menschen zusammenlebten, wie im Fall Ihrer Großmutter, hat es niemand ausgesprochen." Insbesondere die privaten Filmaufnahmen, die zum Beispiel ein ausgelassenes Abendessen mit einem befreundeten schwulen Paar zeigen, wirken dieser historischen Marginalisierung entgegen. Auf der
Tonebene des Films geben zwei Schauspielerinnen auch den Schriften von Nadine und Nelly eine Stimme. Die Erinnerungen aus den NS-Konzentrationslagern sind durch
schwarz-weiße Landschaftsaufnahmen bebildert, die aus dem belgischen Dokumentarfilm
Symphonie Paysanne (
Boerensymfonie, 1944, R: Maurice Delattre, Henri Storck) stammen.
Nelly & Nadine bietet für die Fächer Geschichte und Sozialkunde hervorragendes Material, um im Unterricht kanonisierte Ereignisse wie Holocaust und Zweiter Weltkrieg aus der Perspektive historisch marginalisierter Biografien zu betrachten. Eine Recherche zur Situation von Frauen in Konzentrationslagern und zur Verfolgung von Homosexuellen sind zum Verständnis hilfreich. Aus welchen Gründen wurden jedoch Nelly und Nadine nach Ravensbrück deportiert? Auch die Dramaturgie des Films zwischen historischer und gegenwärtiger Ebene sollte thematisiert werden. Warum hat Sylvie Angst vor dem Nachlass ihrer Großmutter – und warum zeigt der Film diese Erinnerungsarbeit? "Nichts existiert gesellschaftlich, bis man es äußert", sagt Joan Schenkar im Film über die Sichtbarkeit von queeren Lebensweisen. Über diesen Satz lässt sich gut im Plenum diskutieren, aber er könnte auch Anstoß für eine Recherche über die eigene Familiengeschichte geben.
Arbeitsblatt zu Nelly & Nadine
Fächer: Geschichte, Sozialkunde/Gemeinschaftskunde, Ethik, Deutsch, Französisch, ab 9. Klasse
Vor der Filmsichtung:
a) Seht euch das Filmplakat an. Wovon könnte der Film
Nelly & Nadine handeln? Tauscht euch im Plenum aus.
b) Bei den beiden Frauen auf dem Foto des Filmplakats handelt es sich um Nelly Mousset-Vos (links) und Nadine Hwang. Sie lernten sich im Frauenkonzentrationslager Ravensbrück kennen und verliebten sich ineinander. Erläutert, was ihr bereits über die Bedingungen in Konzentrationslagern und über die Situation homosexueller Menschen während des Nationalsozialismus wisst. Arbeitet im Tandem und haltet euer bisheriges Wissen stichpunktartig fest. Ergänzt es gegebenenfalls, indem ihr folgende Websites nutzt. Vergleicht eure Ergebnisse anschließend im Plenum.
Zum Konzentrationslager Ravensbrück:
bpb.de: Frauenlager Ravensbrück
bpb.de: Audio-Interviews mit überlebenden Zeitzeuginnen des Konzentrationslagers Ravensbrück
Zur Situation von homosexuellen Menschen während des Nationalsozialismus:
dhm.de: Ausgrenzung und Verfolgung
lsvd.de: Von 1933 bis heute
c) Das Privatarchiv von Nelly und Nadine, das Fotos,
Super-8-Filme, Briefe und Tagebücher sowie Tonaufnahmen enthält, stand über 20 Jahre unberührt bei Nellys Enkelin Sylvie Bianchi auf dem Dachboden. Stellt euch vor, ihr hättet die Erlaubnis, ausgehend von dem vorhandenen Material einen Dokumentarfilm zu drehen. Plant im Tandem euer Vorgehen. Geht dabei auf folgende Aspekte ein:
1. Welche Elemente würdet ihr benutzen (
Musik, Originalaufnahmen aus dem Konzentrationslager; Interviews mit Zeitzeug/-innen …)?
2. Würdet ihr Nellys Enkelin miteinbeziehen und falls ja, inwiefern?
3. Sollten noch weitere Personen in Erscheinung treten? Wenn ja, wer und warum?
Während der Filmsichtung:
d) Teilt euch in 3 Gruppen auf. Achtet während der Filmsichtung arbeitsteilig darauf, wie die Punkte aus Aufgabe c) filmisch realisiert wurden.
Gruppe A: Welches Material hat der Regisseur Magnus Gertten ausgewählt und wie setzt er es filmisch in Szene?
Gruppe B: Wie wird die Enkelin von Nelly in den Dokumentarfilm miteingebunden und welche Funktion hat sie?
Gruppe C: Welche weiteren Personen treten im Film auf und welche Funktion haben sie?
Alle: Was erfahren wir über die Lebens-und Liebesgeschichte von Nelly und Nadine?
Macht euch während und unmittelbar nach der Filmsichtung Notizen.
Nach der Filmsichtung:
e) Tauscht euch im Plenum aus:
- Gibt es etwas, das euch besonders berührt, überrascht und/oder schockiert hat?
- Gibt es eine Szene, die euch besonders in Erinnerung geblieben ist? Weshalb?
- Gibt es offene Fragen?
f) Tauscht euch weiterhin im Plenum über eure Ergebnisse aus Aufgabe c) aus und gleicht sie mit euren Beobachtungen aus Aufgabe d) ab.
g) Lest euch das Interview mit dem Regisseur Magnus Gertten sowie die Filmkritiken zu
Nelly & Nadine durch.
l-mag: Interview zu Nelly & Nadine
kino-zeit.de: Filmkritik zu Nelly & Nadine
Bearbeitet zu zweit folgende Aufgaben.
1. Skizziert die Entstehungsgeschichte des Films
Nelly & Nadine.
2. Was war die Motivation des Regisseurs, diesen Film zu realisieren?
3. Könnt ihr die Motivation des Regisseurs nachvollziehen? Begründet.
h) Warum, denkt ihr, hat die Enkelin von Nelly lange nicht gewagt, das Privatarchiv ihrer Großmutter zu sichten? Und warum hat Magnus Gertten entschieden, der Erinnerungsarbeit der Enkelin einen zentralen Platz in seinem Dokumentarfilm einzuräumen? Tauscht euch im Plenum aus.
i) Nellys Homosexualität wurde in der Familie nicht thematisiert und existierte damit nicht. Die Enkelin Nellys trifft im Film die Schriftstellerin und Literaturhistorikerin Joan Schenka, die über die Sichtbarkeit von queeren Lebensweisen Folgendes sagt: "Nichts existiert gesellschaftlich, bis man es äußert". Diskutiert im Plenum über die Bedeutung dieses Satzes und nehmt dabei Bezug auf das bisher Erarbeitete.
Aufgabe j) optional:
j) Auf der Berlinale 2022 feierte der Film
Nelly & Nadine Premiere und wurde mit dem Teddy Award in der Kategorie Jury Award ausgezeichnet. Beantwortet folgende Fragen in Einzelarbeit.
1. Wann wurde der Teddy Award gegründet?
2. Was war die Gründungsidee des Awards?
3. An welchen Film wurde der allererste Teddy Award verliehen?
4. Wurde der Film eurer Meinung nach zu Recht mit dem Teddy ausgezeichnet? Begründet eure Antwort.
Folgende Website kann Ausgangspunkt eurer Recherche sein:
teddyaward.tv
k) Welche Unterschiede gibt es bei LGBT-Rechten weltweit?? Arbeitet zu zweit und erstellt eine Übersicht in Stichpunkten. Folgende Website könnt ihr als Ausgangspunkt eurer Recherche verwenden:
lsvd.de
Alternativ:
l) Erstellt einen Steckbrief des Films
Nelly & Nadine. Nehmt dabei Bezug auf das bisher Bearbeitete. Der Steckbrief soll dazu dienen, die Schulgemeinschaft auf das Schicksal der beiden Frauen aufmerksam zu machen. Gestaltet den Steckbrief graphisch ansprechend: Ihr könnt zum Beispiel das Filmplakat und/oder Fotos verwenden oder auch eigene Zeichnungen etc. Inhaltlich sollte er Folgendes enthalten:
- Worum geht es in
Nelly & Nadine?
- Wie ist der Film entstanden?
- Warum ist der Film wichtig?
m) Wertet die Steckbriefe kriteriengeleitet aus. Leistet selbst einen Beitrag für die Sichtbarkeit queerer Lebensweisen: Stellt die Steckbriefe im Schulhaus aus und übergebt den Gelungensten der Redaktion eurer Schülerzeitung oder stellt ihn auf die Homepage der Schule.
Autor/in: Jan-Philipp Kohlmann (Besprechung), Lena Sophie Gutfreund (Arbeitsblatt), 23.11.2022
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