In einer kleinen deutschen Garnisonsstadt des 19. Jahrhunderts dient Woyzeck als einfacher Soldat. Der Sold reicht nicht aus, um seine Geliebte Marie und den gemeinsamen Sohn zu ernähren, daher verrichtet er zusätzlich Hilfsarbeiten für seinen Offizier und lässt sich von einem Arzt als Versuchsperson missbrauchen. "Hat er schon seine Erbsen gegessen, Woyzeck?" Der Arzt verordnet ihm eine unmenschlich strenge Diät, spricht ihn herablassend an und behandelt ihn wie ein reines, wenn auch faszinierendes Forschungsobjekt. Der Offizier hingegen macht sich über Woyzecks angebliche Dummheit und fehlende Moral unverhohlen lustig. Woyzeck selbst nimmt diese Bösartigkeiten passiv hin, obwohl er seine Situation klar zu reflektieren scheint. Gleichzeitig werden jedoch Zeichen einer psychischen Krise deutlich – ob ausgelöst durch Mangelernährung, ständige Schikane oder eine grundsätzliche Disposition, bleibt unklar. Als Marie eine Affäre mit einem Tambourmajor beginnt und Woyzeck davon erfährt, verkehrt sich sein Leid in Gewalt: Er kauft ein Messer und ersticht die Geliebte.
Als Werner Herzog im Jahr 1978 Georg Büchners Dramenfragment
Woyzeck (1837) verfilmte, galt er international bereits als einer der eigenwilligsten Regieautoren des
Neuen Deutschen Films. Umso mehr überraschte die große Werktreue, mit der er die sozialkritische literarische Vorlage beinahe
Szene für Szene und Wort für Wort als
Kostümfilm
in historischer Kulisse umsetzte. Da die Kamera das Geschehen zudem in langen, oft statischen
Halbtotalen und Totalen einfängt, empfanden Kritiker/-innen
Woyzeck seinerzeit häufig als verstaubtes abgefilmtes Theater. Gleichwohl erzeugt die spröde
Inszenierung eine beklemmende, fast klaustrophobische Atmosphäre, die wirkungsvoll mit dem Eindruck von Ausgeliefertsein und Aussichtslosigkeit in der Filmerzählung korrespondiert.
Durch diese Reduktion treten zudem einige
Sequenzen kontrastierend hervor, vor allem die filmische Rahmung: Auf idyllische, von einer ironisch anmutenden Spieluhrenmelodie begleitete Stadt- und Seeansichten, die der Handlung vorangestellt sind, folgt die mit schrägen
Streicherklängen unterlegte
Titelsequenz, die Woyzeck bei demütigenden Militärübungen zeigt. Die Mordszene gegen Ende des Films knüpft an den Beginn an und kehrt die passiv erfahrene in aktiv ausübende Gewalt um: Sie zeigt Woyzecks verstörende Tat in
Zeitlupe, den stummen Schrei Maries und den Schwung des Messers in übertriebenen Gesten, die an expressionistische Darstellungen der Stummfilmzeit erinnern. Auch hier sind zunächst die bizarren Streicherklänge zu hören. Die letzte Szene des Films nimmt dann die Zeitlupe wieder auf. Sie zeigt den anfangs so friedlichen See nun als Schauplatz des Verbrechens, der von Polizisten zu den Klängen Vivaldis untersucht wird. Zentral für die Wirkung des Films ist auch das Spiel des Hauptdarstellers Klaus Kinski. Er verkörpert Woyzeck in einer fiebrig-überspannten Unruhe, mit meist schmerzverzerrtem Gesicht, fahrig tastenden Händen und suchenden Augen, die schon zu Beginn die Kamera und damit das Publikum finden und es an die zeitlose Relevanz des Stoffes erinnern: "Jeder Mensch ist ein Abgrund. Es schwindelt einen, wenn man hinabsieht."
Autor/in: Hanna Schneider, Filmwissenschaftlerin und Koordinatorin der SchulKinoWochen Hamburg, 22.08.2022
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