Eine französische Schauspielerin dreht 1957 in
Hiroshima einen Film über den Frieden. Kurz vor Abschluss der Dreharbeiten hat sie eine Affäre mit einem japanischen Architekten. Diese Begegnung weckt in ihr die verdrängte Erinnerung an ihre erste Liebe zu einem deutschen Soldaten gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Auf komplexe Weise verflechtet
Hiroshima, mon amour drei diegetische Ebenen oder raumzeitliche Blöcke: Zunächst das wiederaufgebaute Hiroshima der Gegenwart des Jahres 1957, dann die von der Atombombe zerstörte Stadt von 1945, die in historischen Dokumenten im ersten Teil des Films gezeigt wird, und schließlich die französische Kleinstadt Nevers im Jahr 1944, wo die Liebe zwischen der jungen Französin und dem Deutschen nach der Okkupationszeit tragisch endet: Er wird ermordet, sie geschoren und monatelang in einen Keller gesperrt.
Aus dem französischen Kino der 1950er-Jahre sticht
Hiroshima, mon amour durch seine Intellektualität und visuelle Kühnheit heraus. Alain Resnais gibt seine
Drehbücher bei Schriftsteller/-innen der literarischen Avantgarde in Auftrag – in diesem Fall Marguerite Duras, deren beschwörende Dialoge sich mit Resnais' sinnlichen Bildern zu einem radikal modernen Film vereinen. Anders als in den Filmen der Nouvelle Vague üblich, legt der politisch engagierte Regisseur größten Wert auf die zeitgeschichtliche Perspektive seiner Filme. Die "horizontale Kollaboration" aus der Sicht einer geschorenen Frau war im damaligen Frankreich ein äußerst provokantes Thema, zu dem die offizielle Geschichtsschreibung schwieg. Im Kontrast zu dieser organisieren Duras und Resnais ihre Erzählung aus dem individuellen Gedächtnis.
Als ein Sinnbild für den Horror des 20. Jahrhunderts ist die Atombombe für Außenstehende und Nachgeborene in der Einzigartigkeit ihres Schreckens nicht vergleichbar und nicht verstehbar. Im berühmten Prolog des Films sind historische Fotografien und "wahrheitsgetreue Nachbildungen" der verwüsteten Stadt kontrapunktisch zu den Liebkosungen des Paares geschnitten. Den Beteuerungen der Französin, sich daraus ein Bild des atomaren Martyriums gemacht zu haben, entgegnet der japanische Liebhaber: "Du hast nichts gesehen in Hiroshima." Wenn es auch unmöglich ist, sich die Katastrophe von Hiroshima vorzustellen, so nähert sich der Film dem Trauma der Atombombe in einer metaphorischen Verschiebung. Hiroshima ist der Ort, an dem die Französin in der Wiederholung einer "unerlaubten Liebe" ihr eigenes Trauma schmerzlich erinnern wird, um es vergessen zu können.
Das Kennenlernen des Japaners bezeichnet sie selbst als ein Wiedersehen; es wird unerwartete Erinnerungen auslösen und "Vergangenheitsschichten" (Gilles Deleuze) an die Oberfläche bringen. Eine erste Reminiszenz löst die Hand des schlafenden Liebhabers aus, deren Position die Erinnerung an den sterbenden deutschen Soldaten weckt. Als verdrängtes Ereignis im psychoanalytischen Sinne wird der Ort Nevers durch das insistierende Nachfragen des Japaners in der filmischen Gegenwart zunehmend Raum greifen. Resnais' visuelles Genie zeigt sich in der
Szene des nächtlichen Herumirrens durch Hiroshimas Straßen, in die perfekt korrespondierende
Kamerafahrten von Nevers
geschnitten sind, welche die Vergangenheit völlig in der Gegenwart aufgehen lassen. In ihnen verwächst das Trauma der persönlichen Tragödie mit dem der Weltgeschichte in Form einer Analogie: Was Nevers für die Französin, ist Hiroshima für die Menschheit. Filmische Ästhetik ist bei Resnais immer auch politisch, oder wie Godard in Bezug auf die Szene sagte: "Kamerafahrten sind eine Frage der Moral".
Autor/in: Dr. Almut Steinlein, freie Autorin, Lehrkraft und Dozentin, 18.01.2021
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