Kategorie: Interview
"Der DDR ist sehr viel gestalterisches Potenzial verloren gegangen"
Historiker Andreas Kötzing im Interview über die verbotenen DEFA-Filme des Jahrgangs 1965/66
Andreas Kötzing ist Historiker und freier Journalist. Zu seinen Schwerpunkten zählen die Filmgeschichte der DDR und die deutsch-deutschen Beziehungen im Kalten Krieg. Er ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Hannah-Arendt-Institut für Totalitarismusforschung in Dresden.
kinofenster.de: In den 1960er-Jahren wurde das Kino in vielen Ländern von Erneuerungsbewegungen erfasst. War der DEFA-Filmjahrgang 1965/66 der Ansatz einer ostdeutschen "Neuen Welle"?
Andreas Kötzing: Der Vergleich liegt nahe. Ähnlich wie bei Regisseuren in anderen Ländern in Europa gab es auch bei der Zum externen Inhalt: DEFA (öffnet im neuen Tab) das Bedürfnis nach einem ästhetischen und inhaltlichen Aufbruch – allerdings sehr DDR-spezifisch. Die Filmemacher waren sehr unterschiedlich, es gab keine geschlossene Bewegung. Das, was viele der verbotenen Filme miteinander verbindet, war das Bedürfnis, die Gesellschaft zu verändern. Aber nicht, um den Sozialismus abzuschaffen. Sie suchten nach Reformansätzen, wie man sich der Utopie einer besseren Gesellschaft, die auf dem Papier existierte, annähern könnte.
kinofenster.de: Viele Filme des Jahrgangs wurden infolge des "Kahlschlag-Plenums" als "staatsfeindlich" verboten, laufende Produktionen gestoppt. Welche Gefahr sah die DDR-Führung in den Filmen?
Andreas Kötzing: In der Aufbruchsstimmung der ersten Hälfte der 1960er-Jahre hatte die SED-Führung die Künstlerinnen und Künstler noch dazu motiviert, durchaus kritisch auf die Entwicklungen in der DDR-Gesellschaft zu schauen. Und das taten diese Filmemacher. Dann drehte sich der Wind jedoch hin zu einer deutlich eingeschränkteren Kulturpolitik. Innerhalb der SED-Führung setzen sich Funktionäre durch, die Reformen ablehnten und sehr skeptisch auf den Bereich der Kunst und Kultur schauten, den sie für vermeintlich schlechte Entwicklungen in der Gesellschaft verantwortlich machten. Da rückten diese Filme und auch das Theater und die Literatur ins Blickfeld. Am Ende hat jeder der zwölf verbotenen Filme eine individuelle Geschichte. Viele weitere Filme wurden unfertig abgebrochen, die meisten schon im Zum Inhalt: Drehbuch-Stadium.
kinofenster.de: Welche Folgen hatten die Verbote für die betroffenen Filmschaffenden?
Andreas Kötzing: Autor/-innen und Regisseure, die sich nicht von ihren Filmen distanzieren wollten, bekamen gravierende Schwierigkeiten. Frank Beyer etwa, der Regisseur von Zum Filmarchiv: "Spur der Steine", wurde ans Theater strafversetzt und durfte eine ganze Weile gar keine Filme mehr drehen. Ein anderes Beispiel ist Frank Vogel mit "Denk bloß nicht, ich heule", der sich vor dem versammelten DEFA-Spielfilmstudio in einer Parteisitzung öffentlich von seinem Film distanzieren musste. Extrem demütigend, aber der einzige Weg, um weiter bei der DEFA arbeiten zu können. Anders war es bei Kurt Maetzig, der zur Gründergeneration der DEFA gehörte und der sich öffentlich von seinem Film "Das Kaninchen bin ich" distanzierte. Er hat später gesagt, er habe das in der Hoffnung getan, mit seinem Vortreten die Wogen zu glätten und damit andere, weniger prominente Regisseure zu schützen. Das hat in der Praxis nicht funktioniert und ihn als Künstler nachhaltig verunsichert. Er wechselte dann in eher administrative Funktionen im Filmwesen in der DDR.
kinofenster.de: Viele der "Verbotsfilme" werden heute als filmhistorisch bedeutsame Werke geschätzt. Was ging dem DDR-Kino damals verloren und wie wurden die Filme wiederentdeckt?
Andreas Kötzing: Der DDR-Kulturlandschaft ist sehr viel gestalterisches Potenzial verloren gegangen, weil viele der Filmschaffenden überzeugte Sozialisten waren, die sich nach dem "Kahlschlag" aber vom System distanzierten. Bei einem Film wie "Spur der Steine", der eine Woche lang zu sehen war und in der kurzen Zeit enorm viele Zuschauer hatte, kann man erahnen, welches Potenzial in diesen Filmen schlummerte, Diskussionen in der DDR-Bevölkerung auszulösen. In der Umbruchszeit im Herbst 1989 gelang es, die Filme aus dem Archiv zu holen. Manche der Filmemacher haben sich damals entschieden, ihre Filme noch zu Ende zu schneiden (Glossar: Zum Inhalt: Montage). Andere wollten sie in einem rohen Zustand lassen, sodass sichtbar bleibt, wie sie damals abgebrochen worden sind. Als sie öffentlich gezeigt wurden, erstmals bei einer großen Veranstaltung in der Akademie der Künste und dann auf der Berlinale, war die Überraschung groß. Aber ihre gesellschaftliche Relevanz war natürlich nicht mehr die gleiche, denn sie hatten sich an ein Publikum Mitte der 1960er-Jahre gerichtet. Wir können sie uns heute wie eine Zeitkapsel anschauen, um uns die künstlerischen Konflikte zu vergegenwärtigen und mitzufühlen, was die Künstler damals in der DDR bewegt hat.
kinofenster.de: Was macht diese Filme für ein heutiges, junges Publikum interessant?
Andreas Kötzing: Manche der verhandelten Konflikte sind ein Stück weit zeitlos, etwa die Rebellion gegen die eigenen Eltern in "Denk bloß nicht, ich heule" oder die Probleme der Jugendlichen in "Berlin um die Ecke". Aber auch ein Film wie Zum Filmarchiv: "Karla", der in der Schule spielt, ist sehr spannend. Er erzählt zwar aus der Perspektive einer jungen Lehrerin, aber stellt auch für junge Leute interessante Fragen: Was will die Schule von den Schülern? Was will eine ambitionierte Lehrerin bei ihnen erreichen? Und wie reagieren sie darauf, wenn starre Denkvorgaben, mit denen sie groß geworden sind, auf einmal hinterfragt werden? Das ist durchaus anschlussfähig für eine heutige Diskussion darüber, was Schule ist und sein kann.
kinofenster.de: Welche Aspekte halten Sie in der Vermittlungsarbeit mit den Filmen für besonders wichtig?
Andreas Kötzing: Um die Filme einordnen und auch ihr Verbot begreifen zu können, braucht es vor allem Hintergrundwissen zur DDR-Geschichte und viel Raum und Zeit für Vor- und Nachbereitung. Dann sind sie aber eine einzigartige Quelle für die 1960er-Jahre in der DDR und für das, was damals vielleicht möglich gewesen wäre, wenn sich nicht die Hardliner innerhalb der SED durchgesetzt hätten.
kinofenster.de: Warum ist Filmbildung, insbesondere auch mit historischen Filmen, wichtig?
Andreas Kötzing: Filme sind eine wichtige Quelle, um die Geschichte des 20. Jahrhunderts anschaulich vermitteln zu können. Nicht um zu zeigen, wie die Vergangenheit "wirklich" war, sondern um sie zu hinterfragen und zu zeigen, wofür Filme benutzt worden sind, wie sie wahrgenommen wurden und was man vielleicht heute noch aus ihnen lernen kann.
Weiterführende Links
- External Link Website der DEFA-Stiftung
- External Link filmportal.de: Film in der DDR
- External Link bpb.de: Dossier: Tschechoslowakische Neue Welle
- External Link bpb.de: DDR kompakt: Das 11. Plenum des ZK der SED
- External Link Deutschland Archiv: 1964 - Das letzte Jahr der sozialistischen Moderne
- External Link Deutschland Archiv: "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Es gibt keinen Dritten Weg"
- External Link APuZ: DDR-Alltag im Film. Verbotene und zensierte Spielfilme der DEFA
- External Link APuZ: Andreas Kötzing: Zensur von DEFA-Filmen in der Bundesrepublik