Kategorie: Hintergrund
Eine verbotene Neue Welle - die DEFA-Kellerfilme
Ost-Berlin, Ende Juni 1966. Am Filmtheater International, dem neuen Erstaufführungskino der Hauptstadt der DDR, kündigt ein großes Plakat einen mit Spannung erwarteten Film an: Frank Beyers Zum Filmarchiv: "Spur der Steine". Blickfang ist Publikumsliebling Manfred Krug, der mit breitkrempigem Hut wie ein Cowboy aussieht. Und das ist zweifellos beabsichtigt, denn Beyer hat Erik Neutschs zwei Jahre zuvor erschienenen Erfolgsroman über die Bauarbeiten am fiktiven Chemiekombinat Schkona in augenzwinkernder Anlehnung an Hollywood-Zum Inhalt: Western verfilmt – mit Krug als schillernden Anführer einer Zimmermannsbrigade.
Für den aufstrebenden Zum externen Inhalt: DEFA (öffnet im neuen Tab)-Regisseur Beyer hat sich damit ein langgehegter Wunsch erfüllt: Endlich einen kritischen und zugleich unterhaltsamen Gegenwartsfilm für das große Publikum zu drehen. Doch obwohl "Spur der Steine" noch kurz zuvor bei seiner Uraufführung auf den Arbeiterfestspielen in Potsdam gefeiert worden war, wird der Film nur wenige Tage im Kino laufen: Am Premierenabend im International feinden ihn Auftragspöbler als „antisozialistisch“ an. Anderntags brandmarkt das SED-Zentralorgan Neues Deutschland den Film als ideologisch fehlgeleitet und politisch schädlich. "Spur der Steine" wird republikweit abgesetzt. Die Kopien landen im Keller des Staatlichen Filmarchivs.
Das Kahlschlagplenum beendet den Kinofrühling
"Spur der Steine" ist der berühmteste der zwölf so genannten Kellerfilme, die 1965/66 in der DDR der Zensur zum Opfer fielen – der Großteil der jährlichen Zum Inhalt: Spielfilmproduktion des DEFA-Studios. Hintergrund dieser Verbotswelle war ein kulturpolitischer Backlash, den die DDR-Führung im Dezember 1965 mit dem 11. Plenum des Zentralkomitees der SED vollzog – und der im Zusammenhang mit der politischen Kehrtwende in der UdSSR nach der Machtübernahme Leonid Breschnews zu sehen ist. Noch Anfang der 1960er-Jahre hatte die Regierung Ulbricht eine Reformpolitik eingeleitet, die sich auch in einer liberaleren Kultur- und Jugendpolitik äußerte. Kulturschaffenden in der DDR boten sich so für kurze Zeit ungekannte Freiräume. Und wie Frank Beyer waren auch viele andere Kreative der DEFA entschlossen, Probleme der sozialistischen Gesellschaft wie die Dogmatik und Bigotterie des politischen Establishments, vor allem aber auch die fehlende (Gestaltungs-)Freiheit für die Jugend und speziell für Frauen nun offener zu thematisieren. Gleichzeitig sahen sie die Chance, das ästhetisch erstarrte DDR-Kino nach dem Vorbild der Neuen Wellen in Frankreich und der Tschechoslowakei zu erneuern. Das berüchtigte "Kahlschlagplenum" setzte diesem Aufbruch ein abruptes Ende.
Während "Spur der Steine" im Zuge der politischen Wende im Herbst 1989 wiederaufgeführt wurde, konnten andere Kellerfilme der Öffentlichkeit in den Folgejahren oft nach aufwändiger Rekonstruktion erstmals zugänglich gemacht werden. Bis auf eine Ausnahme sind sie heute alle, wenn auch teils als Fragmente wie Kurt Barthels "Fräulein Schmetterling", verfügbar und bieten nicht nur kritische Einblicke in die gesellschaftliche Realität der DDR – die Filme überraschen auch durch Witz, Unverklemmtheit und ästhetische Modernität: Kaum eine Spur von der Provinzialität, die ost- und westdeutschen Nachkriegsfilmen sonst so oft anhaftet – es sei denn in ironischer Form, wie in Hans-Joachim Kasprziks Kleinstadt-Krimi-Komödie Zum Filmarchiv: "Hände hoch oder ich schieße".
Ein Hauch von Nouvelle Vague
Auffällig ist, wie selbstverständlich und spielerisch die Filme die Bildsprache der internationalen Kinomoderne aufgreifen. So hat Jürgen Böttcher mit Zum Filmarchiv: "Jahrgang 45" ein wunderbares Porträt eines jungen "Tagediebs" aus Prenzlauer Berg gedreht, das in Charme und Leichtigkeit an Filme der Zum Inhalt: Nouvelle Vague erinnert. In Kurt Maetzigs Frauenporträt "Das Kaninchen bin ich", eine kritische Auseinandersetzung mit der DDR-Justiz, fängt die Kamera die junge Protagonistin mitunter ein wie eine Godard-Heldin. Und ein weiteres Beispiel für eine starke Frauenfigur ist die junge Titelheldin in Zum Filmarchiv: "Karla" von Hermann Zschoche. Gleichwohl sticht ins Auge: Zum Inhalt: Regie führten auch bei den Kellerfilmen ausschließlich Männer – von der in der DDR-Verfassung verbrieften Gleichberechtigung war selbst die progressive Filmproduktion weit entfernt.
Eine wichtige Bezugsgröße der Filme war auch der Zum Inhalt: italienische Neorealismus. So zitiert Regisseur Egon Günther im Vorspann von "Wenn Du groß bist, lieber Adam" die Eingangssequenz von Federico Fellinis "Das süße Leben "("La Dolce Vita", IT 1960), bloß schwebt anstelle einer Jesus-Skulptur ein Strommast an einem Helikopter ins Bild – der technologische Fortschritt als neue Religion. Der Esprit und die visuelle Fantasie von Günthers märchenhafter Komödie machen schmerzlich bewusst, welches kreative Potenzial seinerzeit unrealisiert blieb. Denn den Aufführungsverboten folgte eine personelle "Säuberungswelle": Nicht nur der Kulturminister, sein Stellvertreter und der Studiodirektor der DEFA wurden ausgetauscht, sondern auch die Filmemacher sanktioniert. So musste Frank Beyer mehrere Jahre "auf Bewährung" in die Provinz ans Theater. Jürgen Böttcher drehte fortan Zum Inhalt: Dokumentarfilme und widmete sich der Malerei. Kurt Maetzig dagegen, für seine "Thälmann"-Filme (DDR 1954/55) einst mit dem Nationalpreis ausgezeichnet, legte eine Selbstkritik ab und konnte danach weiterarbeiten. "Eine scheußliche moralische Selbstbeschmutzung," wie er später eingestand.
Gefährlich rebellische Helden
Doch was hätten die Kellerfilme in der Gesellschaft ausgelöst, wenn sie in die Kinos gekommen wären? Objektiv betrachtet waren die verbotenen Filme nicht im eigentlichen Sinne oppositionell und schon gar nicht konterrevolutionär – trotz diverser politischer Spitzen etwa gegen den Mauerbau. Als gefährlicher dürften die SED-Hardliner die Attraktivität der unangepassten jungen Filmhelden empfunden haben. Charaktere wie der Jeans tragende rebellische Schüler in Frank Vogels "Denk bloß nicht, ich heule", eine Art deutscher James Dean, legten bloß, dass die Jugend ganz andere Ideale und Sehnsüchte hegte als die Funktionärsgeneration der alten Kämpfer gegen den Faschismus. Vor allem aber veranschaulichten die Filmemacher die Lebenswirklichkeit der Menschen, indem sie dem Vorbild des Neorealismus folgten und außerhalb des Studios quasi dokumentarisch an ganz alltäglichen Orten drehten – und wiesen so auf die Diskrepanz zum offiziellen Selbstverständnis der DDR hin. Dass die Filme damit bei ihrer Veröffentlichung die Forderungen nach einer Demokratisierung des Staats befeuert hätten, liegt zumindest nahe: Die Nouvelle Vague in Frankreich gilt ebenso als Wegbereiter des Pariser Mai 1968 wie die Zum externen Inhalt: tschechoslowakische Neue Welle (öffnet im neuen Tab) für den Prager Frühling. In der DDR entlud sich der Frust der Bürger zwanzig Jahre später.
Weiterführende Links
- External Link bpb.de: DDR kompakt: Das 11. Plenum des ZK der SED
- External Link bpb.de: 1964 - Das letzte Jahr der sozialistischen Moderne
- External Link bpb.de: "Wer nicht für uns ist, ist gegen uns. Es gibt keinen Dritten Weg"
- External Link bpb.de: DDR-Alltag im Film. Verbotene und zensierte Spielfilme der DEFA
- External Link bpb.de: Andreas Kötzing: Zensur von DEFA-Filmen in der Bundesrepublik