Kinofilmgeschichte
Kino-Film-Geschichte XX: Richter, Rächer, Henker – Eine Kinofilmgeschichte zu Selbstjustiz und Todesstrafe
Ein kurzer Film über das Töten
Kann man sich über eine Hinrichtung filmisch lustig machen? Einer hat es riskiert: Woody Allen . In Die letzte Nacht des Boris Gruschenko tritt der komische russische Held ganz gelassen vor das Exekutionskommando. Ein Engel ist ihm erschienen und hat seine Rettung prophezeit. Aber der Engel hat gelogen. Die Schüsse fallen. Noch ein anderer hat den Tabubruch mit dem tödlichen Augenblick gewagt: Josef von Sternberg. In Dishonored lässt er Marlene Dietrich die Hinrichtungs-Situation durch Erotik ad absurdum führen. Sie benutzt den Säbel des Exekutions-Kommandanten als Spiegel, in dem sie sich ein letztes Mal die Lippen schminkt.
Dead Man Walking
Klassiker gegen die Todesstrafe
Das Kino ist mit dem Thema der Todesstrafe komplexer umgegangen, als es in der schnellen Erinnerung scheint. Rasch fallen einem die bedeutenden und engagierten Filme gegen eine Justizpraxis ein, die den archaischen Stufen gesellschaftlicher Organisation entstammt und mehr mit Rache zu tun hat als mit Gerechtigkeit.
Lasst mich leben! von Robert Wise (USA 1958),
Ein kurzer Film über das Töten von Krzysztof Kieslowski (Polen 1987),
Dead Man Walking von Tim Robbins (USA 1995). In all diesen Filmen wird das Schicksal eines Individuums (des Verurteilten) gegen den Justizapparat gestellt. Und dieses Verfahren funktioniert sogar dann noch zugunsten des Individuums, wenn die Tat des Mörders als sinnlos und brutal gezeigt wird.
Delegation der Rache
Rache als Grundmotiv für die Todesstrafe (denn die Geschichte der fortgesetzten Verbrechen hat schlagend bewiesen, dass sie zur Abschreckung nicht taugt) kann nur auf der Basis von zwei Abstraktionsvorgängen durchgehalten werden. Der erste besteht in der Abstraktion des Verurteilten von seiner Menschlichkeit und von seiner persönlichen Sozialisationsgeschichte; er wird zum "Bösen" und kann deshalb vernichtet werden. Der zweite besteht in der Delegation der Rache an einen gesichtslosen Mechanismus. Als solcher erscheint ein staatlicher Justizapparat dem Rachesuchenden. Ihn begreift er als Vollzugsorgan der eigenen Emotionen. Denn die wenigsten Menschen wären über einen Augenblick des empörten Schocks hinaus in der Lage, die Rache selbst zu vollziehen.
Der Verurteilte ist ein Mensch
Indem sie den Apparat als unmenschlich, den Verurteilten aber in seiner Menschlichkeit zeigen, verkehren Filme gegen die Todesstrafe die psychologischen Abstraktions- und Verdrängungsmechanismen dramaturgisch in ihr Gegenteil. Das hat schon bei David W. Griffith funktioniert, der 1916 mit Intolerance gewiss keinen appellativen Film drehen wollte. Doch da er die Qual eines Gangs zum Schafott eindringlich vorführt und durch eine Parallelmontage mit dem Versuch, eine Begnadigung vorzulegen, mit Spannung auflädt, erscheint die Handlungsepisode als Plädoyer gegen den inhumanen Vorgang einer Hinrichtung. Viele Filme mit der Tendenz, auf die Fragwürdigkeit der Todesstrafe aufmerksam zu machen, sind dem Beispiel von Griffith gefolgt. Dazu gehören: John Brahms Lasst uns leben (USA 1939), Arthur Dreyfuss' Der Todeskandidat (GB 1962), José Giovannis Endstation Schafott (Frankreich 1973) und Daniel Petries Protokoll einer Hinrichtung (USA 1985). All diese Filme zielen zuerst auf die Emotionen der Zuschauer und zeigen deshalb Charakterzüge des Melodrams.
Die Umkehrung der Emotionen
Selbstverständlich funktioniert die dramaturgische Methode auch in umgekehrter Richtung. Indem Täter dämonisiert und ihre Verbrechen in die Übergröße getrieben werden, erscheint die Todesstrafe dann als unverzichtbar. Ein besonders infames Beispiel für diese Haltung ist Dominic Senas Kalifornia (USA 1992). Darin wird ein liberaler Student und Gegner der Todesstrafe durch den Kontakt zu einem debilen Killerpärchen zum Töten gebracht, um seine Freundin zu retten. Die Kehrseite des filmischen Engagements gegen Menschentötung aus Justizräson ist – vor allem im Hollywood-Kino – die Heroisierung von Personen, die Selbstjustiz üben.
Die Jury
Rächer sehen rot
Meist steht hinter der Verherrlichung der Selbstjustiz das Argument, Rechtsprechung und Strafvollzug seien zu liberal, unwirksam und "lasch". Deswegen müsse der Bürger die Bestrafung von Tätern selbst in die Hand nehmen. Exemplarisch für diese Position ist Michael Winners
Ein Mann sieht rot (USA 1974). Das ist eine Geschichte, die dem Rächer Recht gibt und damit die zivilisatorische Zähmung des Racheinstinkts durch Delegation an staatliche Institute aushöhlt. Genau von dieser Zähmung hatte das amerikanische Kino in zahllosen Western erzählt, in denen der einsame Rächer durch den Sheriff abgelöst wurde. Mit dem kommerziellen Erfolg von
Ein Mann sieht rot wurde der vorgesetzliche Zustand archaischer Verhältnisse in die Städte des 20. Jahrhunderts zurück geholt. In seiner Folge wurde unter anderem in
Der Mann ohne Gnade, Death Wish III – Der Rächer von New York und
Das Weiße im Auge gelyncht. Auf besonders vertrackte und wiederum sehr erfolgreiche Weise – indem er mit der Abscheu vor Rassismus und mit Political Correctness spielte – pries Joel Schumacher die Selbstjustiz in der Grisham-Verfilmung
Die Jury (USA 1996). Mit mehr Fingerspitzengefühl behandelten 1983 die deutschen Regisseure Hark Bohm in
Der Fall Bachmeier – Keine Zeit für Tränen und Burkhard Driest in
Annas Mutter denselben authentischen und spektakulären Fall von Selbstjustiz in der Bundesrepublik.
Die Gefahr des Irrtums
Der Täter, der Rächer, der Richter, der Henker – das ist das Personal, um das es geht, wenn im Film von Tod und Strafe gehandelt wird. Es wird ergänzt durch das Opfer, nicht das Opfer der Tat, sondern das Opfer der Justiz. Denn die Justiz ist zum Irrtum fähig – und der ist irreversibel, wenn ein Todesurteil vollstreckt wurde. Von der Möglichkeit des Justizirrtums als einem wichtigen Argument gegen die Todesstrafe handelt einer der berühmtesten Filme der Kinogeschichte: Die zwölf Geschworenen von Sidney Lumet (USA 1957).
Unschuldig vergossenes Blut
"Die Geschichte der Todesstrafe – das ist die Geschichte unschuldig vergossenen Blutes", schreibt Karl Bruno Leder in seinem Buch "Todesstrafe". "Es ist eine Geschichte der vielfältigen Gewalt der Gesellschaft gegen den Einzelnen; eine Gewalt, die sich stets mit hehren Begriffen tarnte und doch nichts anderes war als der Ausbruch kollektiver Schuldgefühle und gemeinschaftlicher Angst." Die Geschichte des Kinos hat diese These immer wieder illustriert, kommentiert und unermüdlich zur Diskussion gestellt.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 21.09.2006