Filmfest München 2001
Vier Außerirdische versuchen mit dem ultimativen Film abzuhauen, der eigentlich auf dem Filmfest München laufen soll. Drei junge Damen wissen das zu verhindern, nicht ohne vorher den Monopteros im Englischen Garten in Schutt und Asche gelegt zu haben. Der Trailer des Münchner Filmfests mit überdeutlichen Anleihen bei erfolgreichen Action- und SF-Filmen der letzten Jahre stieß beim Publikum auf einhellige Ablehnung, was zum Glück nicht auf das breitgefächerte Programm abfärbte. Neben zahlreichen sehenswerten Filmen mit gesellschaftspolitischem Anspruch ließen sich auf dem neuen Festival-Highlight "Der besondere Blick" sogar filmische Entdeckungen machen. Dennoch mangelte es dem Filmfest an eigenständigem Profil.
Fiction und Non-Fiction
Mit abgrundtiefem Humor und analytischem Feingespür sinniert der Amerikaner Todd Solondz in seinem dritten Spielfilm Storytelling darüber, was uns im Kino in der Vermittlung von Jugendproblemen als Fiction und Non-Fiction verkauft wird. Und wie in seinen bisherigen Werken geht er dabei nicht gerade sanft mit der amerikanischen Mittelstandsfamilie um, die vor lauter Wohlstand vergessen hat, was echte Gefühle, Kommunikation und Empathie gerade auch in Beziehung zu den eigenen Kindern bedeuten. In einem kurzen ersten Teil, der mit "Fiction" überschrieben ist, lässt sich eine weiße College-Schülerin von einem schwarzen Literaturprofessor missbrauchen, obwohl sie weiß, dass es ihren Klassenkameradinnen genauso ergangen ist. Der wirklichen Realität von Jugendlichen möchte sich der längere Hauptteil des Films nähern. Er ist mit Non-Fiction getitelt und zeigt in einer doppelt gebrochenen Handlung sowohl die Alltagsrealität einer Familie als auch die illustren Bemühungen eines Dokumentarfilmers, anhand dieser Familie und ihrer Kinder etwas über die Lebensbedingungen der heutigen Schülergeneration zwischen Frust und Lust zu erfahren.
Der Rote: Triumph
Keine Gnade
East meets West
Kapitalistische Strukturen und materialistische Werthaltungen haben den Alltag in Osteuropa prägend verändert und spiegeln sich in zwei Filmen aus Russland und Polen wider: Als gestandener Geschäftsmann, dem niemand das Wasser reichen kann, begreift sich der jugendliche Drogendealer Andrei mit dem Spitznamen "Red" in Der Rote: Triumph von Oleg Pogodin und Vladimir Alenikov. Als einer von ihnen vor seinen Augen Selbstmord begeht, kommt Andrei an eine Waffe. Damit will er eine gegnerische Jugendgang ausschalten, die in das Revier seiner eigenen Gang eingedrungen ist und ihm auch noch "sein Mädchen" weggeschnappt hat. Rücksichtslos spielt er jeden gegen jeden aus und verliert am Ende alles. – In Waldemar Krzysteks Keine Gnade kämpfen zwei polnische Weinhandelsfirmen mit allen Mitteln um die führende Marktposition. Die eigenen Mitarbeiter werden rund um die Uhr ausgebeutet und fristlos gekündigt, sobald der Umsatz sinkt. Ein arbeitsloser Lehrer erliegt den Verlockungen des Wohlstands und lässt sich auf dieses Spiel ein, in dem nur die Stärksten im ganz wörtlichen Sinn überleben. Die warnende Botschaft des Films ist klar, das System führt sich natürlich selbst ad absurdum und schließlich ist das Glück nur den Aufrechten hold.
Boots
Rechtsradikalismus
Zwei sehr eigenwillige, persönliche Auseinandersetzungen mit den Erscheinungen des Rechtsradikalismus weltweit, am Beispiel der USA: Nach einem authentischen Fall handelt Henry Beans The Believer , der Preisträger des Sundance-Filmfestivals, von dem New Yorker Skinhead Danny Balint, der zu einem der gewalttätigsten Führer der neofaschistischen Bewegung wurde. Sein (selbst-)zerstörerischer Hass wird nur noch größer, als man seine jüdische Herkunft aufdeckt und ihn unmittelbar mit den Leidensgeschichten von Überlebenden des Holocaust konfrontiert. Ein irritierender, eher kammerspielartiger Film, in dem es freilich mehr um das Judentum und den Glauben an sich geht, als um eine gesellschaftskritische Annäherung an neonazistische Umtriebe. – Dasselbe Prinzip der eigenen Herkunft, die den vertretenen Weltbildern zuwiderläuft und zur Identitätskrise führt, benutzt Fassbinder-Darsteller Ulli Lommel in Boots und macht es zum tragikomisch wirkenden Konstrukt mit humanistischer Botschaft. Um seinen 18-jährigen Sohn aus einer rechtsradikalen Clique herauszuholen, reist ein berühmter deutscher Dirigent nach Los Angeles. Seine Ex-Frau hat dort einen weißen Richter geheiratet, der für seine besonders harten Urteile gegen Schwarze berüchtigt ist. Als der jüdische Dirigent dem Richter nachweist, dass einige seiner Vorfahren schwarze Sklaven waren und der Sohn von seiner jüdischen Großmutter erfährt, werden die selbsternannten Feindbilder (die Schwarzen und die Juden) obsolet, was tödliche Konsequenzen hat.
Der Tag an dem ich zur Frau wurde
Fundamentalistischer Ausnahmezustand
Um ganz andere Auswüchse fundamentalistischer Geisteshaltungen, die sich insbesondere auch gegen die Würde der Frauen richten, geht es in zwei Filmen aus dem Iran und sie finden dafür eindringliche und außergewöhnliche Bilder. Beide Filme haben bereits in Cannes bzw. Venedig für Aufsehen gesorgt.
Reise nach Kandahar von Mohsen Makhmalbaf spielt vor dem Hintergrund des Bürgerkrieges in Afghanistan. Eine nach Kanada geflohene Journalistin kehrt in ihr Land zurück, um ihrer kleinen Schwester beizustehen, die an den Verhältnissen verzweifelt. Auf ihrer lebensgefährlichen Reise ins Land der Taliban muss sie Schritt für Schritt ihre Autonomie aufgeben, ist immer dichter vermummt und mit extrem eingeengtem Gesichtsfeld hilflos den Kontrollen der Sittenwächter ausgeliefert. Als sie erkrankt, darf selbst ein Arzt sie offiziell nur durch einen Vorhang hindurch untersuchen, ohne direkt mit ihr sprechen zu können. Groteske Situationen in einem dem Wahnsinn überlassenen Land. Die Armut ist überwältigend, von internationalen Hilfsorganisationen aus dem Flugzeug abgeworfene Krücken sind oft die einzige Hoffnung für unzählige Opfer, denen Landminen einzelne Gliedmaßen weggerissen haben. – In drei lose miteinander verknüpften Episoden schildert die junge Iranerin Marziyeh Meshkini in
Der Tag an dem ich zur Frau wurde die immer noch unwürdige Situation vieler Frauen in ihrem Land, in dem die unbeschwerte Kindheit für Mädchen an ihrem neunten Geburtstag aufhört, wenn sie von einer Minute auf die andere nicht mehr mit Jungen spielen dürfen und einen Schador tragen müssen oder eine junge Frau wegen einer vom Manne missbilligten Radtour binnen weniger Minuten Ehemann, Familie, Heimat und Ehre verlieren kann.
Rufmord - Jenseits der Moral
Before Night Falls
Privatsphäre und Politik
Das komplizierte Spannungsverhältnis von Privatsphäre und politischem Mandat lotet Rod Luries Politthriller
Rufmord - Jenseits der Moral (The Contender) aus, der sich von Bill Clintons Eskapaden mit Monika Levinsky inspiriert fühlte, das delikate Thema aber um die Gleichberechtigung der Frauen erweitert. Die designierte Vizepräsidentin der USA soll politisch kalt gestellt werden, weil sie angeblich in ihrer Collegezeit einmal Gruppensex hatte. Schade nur, dass der Film nach zunächst tiefen Einblicken in die Abgründe des Machtstrebens und ungewöhnlich differenziertem Umgang mit der Thematik dann doch sehr amerikanisch "sauber" endet und hinter seine eigenen Ansprüche zurückfällt. – Exzentrischer, aber auch in sich stimmiger und nachdenklicher zu Freiheit, Toleranz und Zensur ist Julian Schnabels Künstlerportrait
Before Night Falls über den kubanischen Schriftsteller Reinaldo Arenas. Politisch anders denkend und noch dazu ein bekennender Homosexueller, wird Arenas zum Dorn im Auge der diktatorischen Regierung, die ihn ins Gefängnis steckt. Durch einen hinausgeschmuggelten Roman weltberühmt geworden, kommt er "frei" und kann über das Meer aus Kuba fliehen. Doch im amerikanischen Exil ist er unglücklich und stirbt 1990 einsam an Aids.
Dokumentarische Highlights
Auch Dokumentarfilme haben auf dem Filmfest ihren festen Platz:
Promises von Justine Shapiro, B.Z. Goldberg und Carlos Bolado wird lange in Erinnerung bleiben und soll noch in diesem Jahr im deutschen Fernsehen ausgestrahlt werden – in einer gekürzten Fassung allerdings. Die Filmemacher befragten vor der zweiten Intifada israelische und palästinensische Kinder nach ihren Vorstellungen vom "Feind". In einer von den Jugendlichen selbst gewünschten persönlichen Begegnung konnten sie ihre erlernten Vorurteile überprüfen. – Spannend bis zur letzten Minute bleibt auch der deutsche "dokumentarische Detektivfilm"
Missing Allen von Christian Bauer. Dieser hatte viele seiner Dokumentarfilme mit dem amerikanischen Kameramann Allen Ross gedreht, der 1995 spurlos verschwand. Bauer macht sich auf die Suche nach dem vermissten Freund und entdeckt nach langwierigen Recherchen, dass er offensichtlich Opfer eines Verbrechens wurde, das im Umfeld einer amerikanischen Sekte geschah. Dem sehr persönlich gehaltenen Film geht es weniger um den kriminalistischen Hintergrund der Geschichte, als um die Auslotung einer Freundschaft, die den Tod überdauerte, mithin um aktive und medial vermittelte Trauerarbeit und die Suche nach Gerechtigkeit.
Autor/in: Holger Twele, 21.09.2006