Hintergrund
Zwischen Rebellion und Angst - Die Rolle des Verrats in Film und Kultur
Unsere großen mythologischen Erzählungen handeln stets von zentralen Fragen zu Existenz und Kultur. Häufig spielt Verrat eine entscheidende Rolle. Nehmen wir zum Beispiel jene, welche die Kultur Europas entscheidend geprägt haben: Erzählungen aus der Bibel. Gleich zu Anfang der biblischen Menschheitsgeschichte steht eine Art Verrat: Adam und Eva missachten das Verbot ihres Schöpfers und essen von Früchten, auf denen ein Tabu liegt. Damit begehen sie einen Vertrauensbruch – als Bruch der Treue oder Bruch des Vertrauens lässt sich Verrat grundsätzlich definieren. Partnerinnen und Partner, Liebende, Freundinnen und Freunde benötigen Vertrauen, um ihre Beziehungen stabil zu halten. Vertrauensbruch hat die Zerrüttung der Beziehung zur Folge. Oft ist sie unheilbar. Wird sie geheilt, setzt das Vergebung voraus.
Christliche Mythologie
Noch deutlicher tritt das Thema Verrat im Neuen Testament hervor. Die Passionsgeschichte Jesu Christi beginnt damit, dass einer seiner engsten Vertrauten, der Jünger Judas Ischariot, ihn verrät. Rein handlungslogisch ist dieser Verrat nicht notwendig. Jesus ist ein stadtbekannter Prediger, und sein Aufenthalt dürfte seinen Gegnern nicht verborgen sein. Doch der Verrat verleiht dem Geschehen Dramatik. Der Verräter wird der positiv besetzten "Hauptfigur" als Bild des Falschen und des Bösen gegenübergestellt. Damit gibt er ein negatives Beispiel in der Morallehre über Jahrhunderte und Jahrtausende hinweg. Der Name Judas ist in der abendländischen Kultur zum Synonym für den Begriff "Verräter" geworden. Schließlich hat er gemäß dem christlichen Glauben Gottes Sohn ans Kreuz geliefert.
Verrat als Archetypus
Und doch ist die Figur des Judas in mancher Hinsicht interessanter als die des rein positiv gedachten Helden Jesus. Man schaue sich nur einmal an, wie sie in den verschiedenen Filmen über das Leben von Jesus Christus interpretiert wird – besonders differenziert durch den Schauspieler Harvey Keitel in
Die letzte Versuchung Christi von Martin Scorsese (The Last Temptation of Christ; USA 1988). Dieser Verräter gewinnt durch Vielschichtigkeit und Uneindeutigkeit, weil seine Motive ins Spiel kommen. Doch häufig wird dem Verrat Feigheit unterstellt oder – wie im Fall Judas – simple Geldgier. Damit lässt sich die Figur des Verräters oder der Verräterin in der Trivialliteratur oder im einfach gestrickten Unterhaltungsfilm schlicht als Negativheld/in darstellen, als Auslöser für das Verhängnis. So ein Typus ist Ephialtes von Trachis in Zack Snyders Verfilmung des Frank Miller-Comics
300 (USA 2007): ein Monster, das den Persern den Zugang zu den Spartanern in den Thermophylen weist. Dennoch ist interessant: Historisch sind von den 300 anonymen Kriegern im Engpass nur die Namen des Heerführers Leonidas und des Verräters Ephialtes überliefert. Ein weiteres Signal für die Bedeutung des Verrats als Archetypus.
Rebellion und Enttäuschung
Denn im Verrat kann die Rebellion verborgen sein. Schon Adam und Eva lehnen sich auf gegen eine Autorität, deren Anweisungen sie nicht durchschauen. Judas wird manchmal gedeutet als Gefolgsmann, der enttäuscht ist vom Handeln Jesu, von dessen rein theologischem und privatem Widerstand gegen die Verhältnisse im römisch besetzten Palästina. Er hat sich vielleicht politische oder militärische Aktionen versprochen. Enttäuschung ist häufig ein Motiv für Verrat in Geschichte und Geschichten. Marcus Iunius Brutus Caepio, kurz Brutus, steht dafür – noch ein großer Verrätername. Als er begreift, dass sein Idol Gaius Iulius Caesar nicht die römische Republik erneuern, sondern zur Krone greifen will, wendet er sich gegen ihn und wird zum Anführer der Verschwörung zum Tyrannenmord. In der Verfilmung des Shakespeare-Dramas Julius Caesar von Joseph L. Mankiewicz (USA 1953) ist er mit dem Schauspieler James Mason hoch besetzt.
Im Loyalitätskonflikt
Verräter/innen sind also bedeutsame Figuren in Weltliteratur und Filmgeschichte. Eine besonders markante sei noch erwähnt: Hagen von Tronje im Nibelungenlied. Er bricht das Versprechen, Siegfried zu beschützen und wird zu dessen Mörder. Allerdings wahrt er dadurch die Treue zu seinem Lehnsherrn Gunther. Menschen, die einen Verrat begehen, geraten immer wieder in einen Normen- und Loyalitätskonflikt. Die Entscheidung für eine Position bedeutet Verrat an der anderen. In der jüngeren Geschichte der Bundesrepublik Deutschland steht dafür exemplarisch der Fall des DDR-Spions Günter Guillaume, der 1974 den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt zu Fall brachte – eindrücklich nachgezeichnet in dem Fernsehfilm Im Schatten der Macht von Oliver Storz (Deutschland 2003). Überhaupt erzählen Spionagefälle (und Spionagefilme) meist Geschichten von Verrat, sei es aus Enttäuschung, Überzeugung, sei es aus materieller Gier.
Verrat und Gewissen
Der Verrat ist meist ausschließlich negativ besetzt – gerade in Geschichten für Kinder soll er pädagogisch wirken und Werte und Maßstäbe in den Prozess der Gewissensbildung einführen. Kinder und Jugendliche sind sich seiner moralischen Bewertung bewusst.

Drachenläufer
Sie stehen selbst stets in der Gefahr zu "petzen", weil sie sich ungerecht behandelt oder verletzt fühlen. Hier gibt es Kerne zur Traumatisierung. Um sich zu wehren, muss man manchmal einen Verrat begehen. Oder man vermei-
det es aus Angst, einem Freund, einer Freundin in Not beizustehen und wird das Gefühl, versagt zu haben, lange nicht los. Das ist der Konflikt, den der Protagonist Amir in dem Film
Drachenläufer (Marc Forster, USA 2007) austragen muss.
Die Rolle der Angst
Dieser Konflikt ist in der Filmgeschichte immer wieder bearbeitet worden. Die Filme zeigen ihn aus beiden Perspektiven: aus der des erfolgten wie aus jener des vermiedenen Verrats. Zwei besonders erschütternde Beispiele für die erste Variante sind
Schuhputzer von Vittorio de Sica (Sciuscià; Italien 1946) und
Lebe wohl, meine Konkubine von Chen Kaige (Bawang bieji; China 1993). In
Schuhputzer verdienen sich zwei italienische Jungen, die im Krieg heimatlos geworden sind, ein bisschen Geld mit dem Wienern von Stiefeln. Als sie einen Diebstahl begehen, um ihren Traum von einem Pferd schneller zu verwirklichen, ist der eine vor Gericht geständig und wird vom anderen als feiger Verräter betrachtet. Am Ende stirbt der "Verratene" bei einer brutalen Schlägerei und der "Verräter" muss mit seinem Schuldtrauma zurecht kommen. Kaiges Film spielt von 1925 bis 1977 in Peking und handelt von den Erlebnissen zweier Akteure der Pekingoper vor dem Hintergrund der politischen Veränderungen. Als die so genannte Kulturrevolution die Kunstform bedroht und die Künstler verfolgt, hält der eine dem Druck nicht stand und beugt sich der Macht. Die spätere Versöhnung bleibt brüchig.
In existentieller Not
Die Nagelprobe zum Verrat erfolgt also in existentiell bedrohlichen Situationen. In einer solchen Situation ist das Kind, das in Frank Beyers
Nackt unter Wölfen (DDR 1962) von Häftlingen des Konzentrationslagers Buchenwald versteckt wird. In eine solche Situation gerät der jüdische Klavierspieler Wladyslaw Szpilman in Roman Polanskis
Der Pianist (Frankreich, Deutschland, Polen, Großbritannien 2002) am Ende seiner Flucht aus dem Warschauer Ghetto, als ein deutscher Offizier seine Herkunft entdeckt. Und in eine solche Situation begibt sich Nafas in
Reise nach Kandahar von Mohsen Makhmalbaf (Iran 2001), als sie als kanadische Journalistin ins Afghanistan der Taliban zurück kehrt, im Schutz einer Burka und eines Mannes mit mehreren Ehefrauen. Alle drei Protagonisten/innen befinden sich in der hochgradigen Gefahr des Verrats. Alle werden nicht verraten.
Kein abgrundtiefer Bösewicht
Dramaturgisch erzeugen die prekären Situationen Hochspannung. Pädagogisch stärken sie das Vertrauen in die Möglichkeit, dass Verrat nicht stattfinden muss. Damit geben sie Beispiele für ethisches Verhalten. Dennoch bleiben Verräterinnen oder Verräter ambivalente Figuren in Geschichte und Geschichten: Möglicherweise Rebell oder Rebellin, möglicherweise zur Entscheidung in einem Loyalitätskonflikt gezwungen, möglicherweise enttäuscht vom Objekt des Verrats, möglicherweise Opfer der Angst – und in der Folge fast immer traumatisiert. Abgrundtiefe Bösewichte sind sie nur dort, wo sehr oberflächlich von ihnen erzählt wird.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, Publizist, Medienpädagoge und Dozent an der Universität Erlangen, 03.01.2008
Mehr zum Thema auf kinofenster.de:
Weitere Texte finden Sie mit unserer Suchfunktion.
Der Text ist lizenziert nach der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 2.0 Germany License.