Der sechste Spielfilm des italienischen Regisseurs basiert auf dem gleichnamigen Bestseller von Roberto Saviano, der auch am Drehbuch mitarbeitete.
Gomorrha wurde bei den diesjährigen Internationalen Filmfestspielen von Cannes mit dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet.
Roberto Savinio steht seit seiner Buchveröffentlichung vor zwei Jahren unter Personenschutz. Nun haben Sie das Buch verfilmt. Müssen Sie Angst haben?
Nein. Der Film ist einen anderen Weg gegangen als das Buch. Der Roman ist natürlich die Grundlage für das Drehbuch, aber wir wollten weniger journalistisch sein. Wir hatten kein Interesse daran, reale Personen zu zitieren, Namen zu nennen. Wir wollten nicht direkt die Camorra attackieren, sondern ein System von innen heraus darstellen.
Gomorrha ist kein Film gegen die Camorra, sondern ein Film über die Camorra. Wir wollten nicht die Bosse zeigen, sondern eine Geschichte aus der direkten Lebenserfahrung der betroffenen Menschen heraus erzählen, mit all ihren Konflikten und ihren Widersprüchen. Gleichzeitig haben wir versucht, über die Charaktere universelle Themen darzustellen. Vielleicht sind die Clanchefs ja sogar enttäuscht, wenn sie den Film sehen (lacht).
Ihr Film beschreibt, wie die Organisation der Camorra die Menschen konditioniert und zerstört, aber er verweigert sich einer moralischen Wertung. Warum?
Ich wollte keinen Film drehen, der irgendwelche Thesen aufstellt und erklärt, wer die Bösen oder die Guten sind. Ich wollte erzählen, dass in Wirklichkeit eine Grauzone existiert. Es ist schwer zu sagen, was legal und was illegal ist – das vermischt sich stark. Die Camorra ist Teil der persönlichen Lebenserfahrung der Menschen, die dort leben. Sie werden davon beeinflusst und sind sich gar nicht bewusst, wie sehr sie in dieses System involviert sind.
Sie haben an Originalschauplätzen gedreht. Wie hat die Bevölkerung reagiert?
Alle waren sehr offen und kooperativ. Für mich war es wichtig, zu sehen, was die Menschen dort von dem Projekt denken und wie sie reagieren. Als wir in diesen Wohnanlagen in Scampìa drehten, standen immer 50 bis 60 Leute hinter dem Monitor, einige waren mit Sicherheit Teil des Systems und andere nicht. Aber aus ihren Reaktionen konnten wir erkennen, ob das, was wir erzählen, mit Leben erfüllt oder "tot" ist.
Ihr Film wirkt sehr authentisch und komplex, zugleich hält er das Publikum auch auf eine gewisse Distanz.
Es überrascht mich immer wieder zu hören, dass der Film als Distanz schaffend empfunden wird. Für mich ist eigentlich der emotionale Aspekt sehr wichtig: Was ich zeige, soll den "Bauch" ansprechen, nicht nur den Kopf. Natürlich muss man den Zuschauern auch Informationen zukommen lassen. Aber ein Film lebt von Farben, von Licht, Gesichtern und Geräuschen, alles was unsere Emotionen anspricht. Ich habe daher fast immer lange Sequenzen mit wenigen Schnitten bevorzugt, um das Gefühl des Zuschauers zu verstärken, sich in der dargestellten Realität wieder zu finden. Wenn das anders wahrgenommen wird, kann ich das zur Kenntnis nehmen, aber es war nicht beabsichtigt. Im Gegenteil.
Ihre Protagonisten Ciro und Marco beziehen ihre Ideale und Ziele aus dem Film Scarface. Inwiefern prägen solche Filmmythen das Realitätsbewusstsein junger Menschen?
Das Verhältnis zwischen Realität und Fiktion ist ein universelles, zeitloses Thema. Es gibt eine Diskrepanz zwischen den Vorstellungen, die diese Menschen haben, und der Realität. Auch das Kino liefert ihnen Vorbilder und sie orientieren sich daran, aber die Wirklichkeit sieht ganz anders aus, und das wollte ich auch zeigen. Es gibt ja immer etwas, was man haben möchte, jemand, der man sein möchte. Wir versuchen alle irgendwelche Vorbilder nachzuahmen: Je nachdem in welcher Realität man sich befindet, kann man das besser oder weniger gut verwirklichen. In der Gegend rund um Neapel ist es sehr einfach, in das Räderwerk der Camorra hinein zu geraten, das einen dann aber auch zerstören kann.
Was kann die Politik tun, um gegen die Organisierte Kriminalität vorzugehen?
Um gegen dieses System Erfolge zu erzielen, muss man den jungen Leuten begreiflich machen, dass es eine andere Dimension gibt, dass etwas außerhalb des Systems existiert. Man muss von innen heraus versuchen, die Dinge zu verändern, indem man etwas für die Bildung und für die Beschäftigung tut. Polizeiliche und militärische Einsätze helfen da wenig.
Möchte Ihr Film dazu beitragen, aufzuklären?
Warum nicht! Wenn wir die Charaktere beobachten, ihre Entscheidungen, vor allem aber die Folgen ihrer Entscheidungen miterleben – dann hat das vielleicht tatsächlich einen Bildungscharakter.