Hintergrund
Lincoln - Inszenierung eines Mythos
Viele US-Präsidenten haben Geschichte geschrieben: George Washington gilt als Gründervater der amerikanischen Nation, Theodore Roosevelt untermauerte Amerikas Weltmachtstellung, John F. Kennedy steht sinnbildlich für die politisch turbulenten 1960er-Jahre. Doch keiner von ihnen genießt einen ähnlich mythischen Status wie der 16. Präsident der Vereinigten Staaten, Abraham Lincoln, den Steven Spielberg in dem
Biopic Lincoln (USA 2012) würdigt. In Lincolns vierjährige Amtszeit fiel das schwerwiegendste Ereignis der amerikanischen Geschichte: die Abspaltung der elf Konföderationsstaaten des Südens und als direkte Folge ein verlustreicher Bürgerkrieg. Lincoln bewies militärische Stärke und taktisches Geschick: Der Norden gewann den Krieg, die USA wurden wiedervereinigt und die Sklaverei konstitutionell verboten.
Annäherung an eine historische Figur
Lincolns früher Tod hat den Mythos um seine Person noch verstärkt. Abhandlungen und Bücher über ihn füllen Regalwände und sein markantes Konterfei befindet sich seit 1909 auf der amerikanischen Ein-Cent-Münze. Wie aber soll ein Filmemacher das Lebenswerk dieser historischen Persönlichkeit angemessen in Szene setzen? Als Heldenepos? Als Charakterstudie? Oder als tragische Geschichte eines Mannes, der sein Land nur mit einem blutigen Bürgerkrieg befrieden konnte? Spielberg integriert in Lincoln all diese Ansätze. Das an entscheidenden Stellen dramatisch zugespitzte Porträt zieht seine Spannung aus den Gegensätzen zwischen dem Privatmann und dem Politiker Abraham Lincoln, der die Abschaffung der Sklaverei auch mit unrechtmäßigen Mitteln durchzusetzen gewillt war.
Charakterisierung über das politische Handeln
Indem Spielberg und sein Drehbuchautor Tony Kushner die Abstimmung im Repräsentantenhaus über den 13. Zusatzartikel der US-Verfassung in den Mittelpunkt von Lincoln stellen, charakterisieren sie den Menschen Lincoln maßgeblich über sein Handeln in der politischen Arena: seinen Umgang mit Parteigenossen, Verbündeten, Kontrahenten, Soldaten, aber auch mit seiner Familie, die bei Spielberg wie selbstverständlich in die politische Sphäre einbezogen ist. Auf dem Schlachtfeld unterhält Lincoln sich mit afroamerikanischen Soldaten, einmal lässt er seinen jüngsten Sohn zum Erstaunen einiger Kabinettsmitglieder während einer Unterredung auf seinem Schoß sitzen. Aus Beschreibungen wie diesen fügt sich das Bild eines Mannes, der die Freiheit und Gleichheit aller Menschen, unabhängig von Hautfarbe oder Herkunft, als Grundlage für ein vereintes Amerika ansah. Lincolns unmissverständliche Haltung gegenüber der Sklaverei macht Spielberg in einer zentralen Szene des Films deutlich, als der Präsident vor seinem Kabinett die umstrittene Gesetzesnovelle als Heilmittel gegen die gesellschaftliche Krankheit des Rassismus verteidigt.
Persönlichkeit mit Widersprüchen
Filmclip "Lincoln" (© Twentieth Century Fox)
Aus diesem Selbstverständnis einer demokratischen Gesellschaftsordnung heraus entwickelt die Persönlichkeit Lincolns bei Spielberg ein so faszinierendes wie widersprüchliches Profil. Die Darstellung von Daniel Day-Lewis trägt hieran maßgeblichen Anteil. Sein ruhiges, subtiles Spiel widersteht der Versuchung, die Figur Lincoln zu überhöhen. Day-Lewis bedient sich vertrauter Wesenszüge und Manierismen, auch sein äußeres Erscheinungsbild ist dem bis heute beliebten US-Präsidenten zum Verwechseln ähnlich. Spielbergs Inszenierung des Raums unterstützt dieses Gefühl von Vertrautheit: Die Innenräume sind dunkel gehalten, was die Protagonisten/innen oft schemenhaft und auratisch erscheinen lässt, wie die historischen Figuren in den Gemälden eines John Trumbull (1756-1843). Day-Lewis konterkariert diese erhabene Aura, die durch seinen bedächtigen, leicht großväterlichen Sprachduktus noch verstärkt wird, jedoch immer wieder mit listigem Humor und schrulligen Eigenarten. Berühmt-berüchtigt waren selbst unter Lincolns Vertrauten seine schier endlosen Anekdoten, mit denen er besonders erbittert geführte Debatten gerne aufzulockern versuchte.
Ein Präsident mit Fehlern
Day-Lewis verkörpert Lincoln als charismatischen Staatenlenker, der sich trotz widriger Umstände seinen Humanismus bewahrt hat. In diesem Zusammenhang muss auch sein politisches Handeln gesehen werden. Spielbergs Lincoln lässt sich auf das schmutzige Geschacher um Posten und Geld ein, weil er davon überzeugt ist, zum Wohl seines Volkes zu handeln. Und auch als Ehemann und Vater ist dieser Lincoln nicht unfehlbar. Seinen ältesten Sohn lässt er widerwillig in einen Krieg ziehen, den er höchstpersönlich beenden könnte. Bei einem gemeinsamen Besuch in einem Militärkrankenhaus kommt es zum Zerwürfnis zwischen Vater und Sohn. Als er den Jungen nicht einmal angesichts verkrüppelter Kriegsveteranen von seinem Vorhaben abbringen kann, schlägt er ihm aus Verzweiflung ins Gesicht. Spielberg schildert Lincoln als Menschen, der an seiner politischen Bürde so schwer zu tragen hat, dass er sich außerstande zeigt, mit denen zu empfinden, die ihm am nächsten sind. Den Verlust seines jüngsten Sohnes erleidet er stumm, mehr noch: Die Trauer seiner Frau befremdet ihn.
Der Mensch hinter dem Mythos
Spielberg versucht gegen den Mythos anzuarbeiten, indem er dem Publikum Lincoln als Privatmann nahebringt. Interessanterweise bedient sich das Hollywoodkino dieser Strategie gewöhnlich, wenn es um das Lebenswerk umstrittener Persönlichkeiten der US-Geschichte geht. So werden Richard Nixon in Oliver Stones Präsidentenporträt
Nixon (USA 1995) und der ehemalige FBI-Direktor J. Edgar Hoover in Clint Eastwoods Biopic
J. Edgar (USA 2011) ungeachtet ihrer politischen Machenschaften als fehlbare Machtmenschen beschrieben, die einer grandiosen Selbstlüge zum Opfer fallen. Eastwood blendet einige kritikwürdige Aktivitäten sogar aus, um sich auf die unterdrückte Sexualität Hoovers zu konzentrieren. In diesen Filmen fungiert das Plädoyer für Menschlichkeit als eine Form von Geschichtsrevisionismus. Ganz anders geht Emilio Estevez mit seinem Film
Bobby – Sie alle hatten einen Traum (Bobby, USA 2006) über den demokratischen Präsidentschaftskandidaten Robert Kennedy vor. Kennedy selbst taucht bei Estevez nur in Archivaufnahmen auf, er dient lediglich als Projektionsfläche für ein Dutzend Figuren, die ihr persönliches Schicksal und ihre Hoffnungen auf ein besseres Amerika an den politischen Heilsbringer Kennedy knüpfen. Im Gegensatz dazu erinnert
Lincoln mit seiner nüchternen,
kammerspielartigen Ästhetik an eine Geschichtsstunde. Die filmische Form erfüllt dabei eine Funktion: Spielberg zeigt, dass der Mythos des Nationalhelden hinter den Kulissen hart – und manchmal auch mit schmutzigen Methoden – errungen ist.
Autor/in: Andreas Busche, Filmpublizist und Filmrestaurator, 09.01.2013
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