Hintergrund
Johanna, der blaue Tiger und die Kraft der Fantasie
Nun steht es also fest: Der schöne alte Botanische Garten, in dem die neunjährige Johanna und ihr Freund Mathias leben und so gerne spielen, soll mitsamt des ganzen Altstadtviertels einem großen Neubauprojekt weichen, weil ein derart verwildertes Stück Land und heterogenes Stadtviertel nach Ansicht des Bürgermeisters Nörgel nicht mehr zum Gesicht einer modernen und sauberen Stadt passt. Die fantasievolle Johanna ist entsetzt über diese Pläne. Aber was soll sie als Kind dem erwachsenen Politiker schon entgegensetzen? Unerwartete Hilfe erhält sie durch einen blauen Tiger, der plötzlich in der Stadt auftaucht – und mit dem der Film eine schöne Metapher findet, um eine Geschichte über die wunderbare Kraft der Fantasie zu erzählen, durch die sich Menschen und Orte verändern können.
Wenn Träume wahr werden
Dabei beginnt alles mit einem verzwickten Gedankenspiel: "Glaubst du, einen Traum, den ich mir vorher ausdenke, kann ich dann auch träumen?", fragt Johanna ihre Mutter, als sie von dem geplanten Abriss ihres Lieblingsortes erfährt und sich sehr machtlos fühlt. Und tatsächlich funktioniert es in
Der blaue Tiger (Modrý tygr, Petr Oukropec, Tschechien, Deutschland, Slowakei 2012) genau auf diese Weise. Denn schon kurze Zeit später löst sich in Johannas Fantasie aus dem Schattenspiel an der Decke die Figur eines Tigers, den das Mädchen bereits zuvor auf seinen Tisch in der Schule und in ihre Bücher gezeichnet und auch in dem farbenfrohen Mosaik an der Wand eines alten verlassenen Schwimmbads entdeckt hat: Ein Wesen, das bislang eigentlich nur in Johannas Vorstellungskraft existiert hat, und das ihr nun ganz real im Alltag helfen soll. Schon in der folgenden Szene wird der Tiger von den Bewohnern/innen des Viertels entdeckt– wobei sein Aussehen noch ganz der Fantasie des Zuschauenden überlassen bleibt. Denn zu sehen sind lediglich die staunenden Blicke der Bewohner/innen und der riesige, sich anmutig bewegende und unheimliche Schatten, den dieser auf die Straßen der Stadt wirft. Lange noch werden die Zuschauer/innen ebenso wie Johanna und Mathias im Unklaren darüber gelassen, was es mit dem Tiger auf sich hat und ob er für die Menschen in der Stadt eine Gefahr darstellt. Erst als dieser ausgerechnet im Gartenhaus des Botanischen Gartens Zuflucht sucht, klärt der Film dieses Rätsel auf und der unheilvolle große Schatten erweist sich als falsche Fährte. In Wirklichkeit handelt es sich um einen jungen, noch dazu kranken Tiger, vor dem Johanna und Mathias sich nicht fürchten müssen.
Ein magisches Wesen
Sehr elegant und fließend von der
Animation zum Realfilm hat der Film dieses Tier greifbar werden lassen: Aus Zeichnungen, die sich nur ein wenig bewegen, und kurzen, traumähnlichen Animationssequenzen, die die Realfilmhandlung unterbrechen und den Tiger als vermenschlichte Zeichentrickfigur mit einem Boot auf dem Weg in die Welt der Menschen zeigen, ist erst ein Schatten, dann ein Spiegelbild im Wasser und schließlich ein leibhaftiges Raubtier geworden. Nur die
blaue Farbe verweist noch darauf, dass es seinen Ursprung eigentlich in der Fantasie von Johanna hat.
Selbstermächtigung durch Fantasie
Von Anfang an wird deutlich, wie Johanna sich mit ihrer Fantasie gegen die Welt der Erwachsenen wehrt oder diese durch magische Elemente bereichert. Beim Spielen wird eine leere Badewanne flugs zum Schaumbad, die schimpfende Hausmeisterin hat plötzlich einen Medusenkopf oder aber die Tigerzeichnung auf der Schulbank hilft ihr, aus dem langweiligen Schulalltag und den Ermahnungen des Lehrers zu fliehen. Überhaupt fühlt sich Johanna mit dem Tiger, einem ihrer Lieblingsmotive, besonders verbunden. In den ersten Animationssequenzen trägt dieser wie Johanna eine große aufgemalte Uhr am Handgelenk. Und aufgrund seiner blauen Farbe ist auch offensichtlich, dass er ungewöhnlich und anders ist – genau wie Johanna, die in der Schule von den anderen Kindern gehänselt und von einer Lehrerin stets mit Argusaugen beobachtet wird.
Ein Tier als Stellvertreter
Der blaue Tiger (© Farbfilm Verleih)
Für das Mädchen ist das Raubtier damit nicht nur eine Identifikationsfigur, sondern auch ein Alter Ego. Wenn Johanna sich schon nicht als Kind gegen den Bürgermeister stellen kann und Teil haben darf an der Gestaltung ihrer Stadt, dann kann der Tiger diese Aufgabe stellvertretend für sie übernehmen, die Welt der Erwachsenen durcheinanderbringen und diese herausfordern: Ein ungezähmter, wilder, blauer Tiger als Gegenbild zu einer künstlichen Stadtplanung, nach der jegliche Natur weichen muss und die alles unter ihre Kontrolle bringen will. Fremd, andersartig und mit Vernunft nicht zu erklären, lässt der blaue Tiger allein durch seine magische Anwesenheit die Pflanzen in dem Botanischen Garten wieder blühen.
Wer hat Angst vorm blauen Tiger?
Kein Wunder, dass bei den meisten Erwachsenen zunächst Skepsis herrscht: Bürgermeister Nörgel hält ihn für ein Hirngespinst oder ein Märchen, Wissenschaftler erklären seine Existenz als Massenhalluzination, die Polizei warnt davor, das Haus zu verlassen, und sogar ein Kopfgeld wird auf den Tiger ausgesetzt. Nur die Kinder lassen sich nicht abschrecken und nähern sich dem Tiger mit Aufgeschlossenheit, Mitgefühl und Neugierde. Auch wenn der Tiger schließlich wieder verschwindet und Johanna und ihre Mutter sowie Mathias und sein Vater doch noch den Botanischen Garten verlassen müssen, hat die kurze Begegnung mit dem blauen Tiger ihr Leben verändert und ihnen Mut gemacht, an die Kraft der Fantasie und an ihre Träume zu glauben. Oder mit Johannas Worten: "Ein Traum existiert ja, obwohl man ihn nicht anfassen kann."
Autor/in: Stefan Stiletto, Medienpädagoge mit Schwerpunkt Filmkompetenz und Filmbildung, 31.10.2013
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