Wenn das Leben wirklich eine Straße ist, wie es die grundlegende Metapher des Zum Inhalt: Genres Zum Inhalt: Roadmovie suggeriert, dann sammeln die beiden jugendlichen Protagonisten von "Roads" innerhalb kurzer Zeit gehörig Lebenserfahrung. Gyllen aus England und William aus dem Kongo fahren über Schotterwege und Vorgärten, auf geradlinigen asphaltierten Bahnen, für die man bezahlen muss, sie bleiben im Sand stecken und überqueren Wasserstraßen auf ihrer Reise von Marokko nach Calais. Dabei stehen die titelgebenden Straßen weniger als metaphorische Windungen von Lebenswegen im Fokus, sondern vielmehr als wechselnde Intensitäten einer Freundschaft.

Außerhalb einer marokkanischen Stadt voller Bettenburgen trifft William auf Gyllen, dessen altes Wohnmobil nicht mehr anspringt. Eine der spärlich eingesetzten Panorama-Einstellungen (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen) zeigt, wie sich William scheu dem Wohnmobil nähert, während weit im Hintergrund die Tourismus-Industrie brummt und leuchtet. Gyllen ist weniger zurückhaltend, betrunken und leicht panisch, da er seinen Ausbruch aus dem Familienurlaub bereits gescheitert sieht. Den Wagen hat er gerade seinem Stiefvater nach einem Streit gestohlen. Zwar kann William ihm helfen, jedoch bleibt die Begegnung etwas unterkühlt. Erst als sie sich zufällig wiedersehen, lässt sich William auf die angebotene Mitfahrgelegenheit nach Europa ein.

Roads, Szene (© Studiocanal GmbH)

Mit dem richtigen Pass nach Europa

Die Grenze zur spanischen Enklave Ceuta überwinden sie mithilfe eines deutschen Althippies, der nicht nur den richtigen Pass, sondern auch einen Führerschein besitzt – und in der Nasszelle des Wohnmobils einen großen Block Haschisch versteckt. Dort muss auch William sich verbergen, während Gyllen nach der Überfahrt allein vor der Fähre zurückgelassen wird. Es gelingt ihnen jedoch, den Wagen zurückzuerobern und mitsamt den Drogen Richtung Frankreich zu fahren. Gyllen möchte dort seinen biologischen Vater wiedersehen, William seinen im Flüchtlingslager von Calais gestrandeten Bruder.

Sebastian Schippers fünfter Film stellt die Zum Inhalt: Inszenierung einer jungen Freundschaft über moralisierende Erzählweisen. Die Konfliktlinien des geflüchteten Jugendlichen William und des ausbrechenden Scheidungskindes Gyllen grundieren die Annäherung der beiden nur; ihre Unterschiede bezüglich Herkunft, Hautfarbe und Wohlstand rücken nicht ins Zentrum. Diese Facetten sind vielmehr authentisch geschilderte Umstände einer Begegnung als überspitzte melodramatische Erzählungen. In ihrem Wohnmobil – meist in Nahaufnahmen gefilmt – entfalten sich die Charaktere auf engem Raum abseits eines linearen dramaturgischen Programms: Sie belügen sich aus Selbstschutz, testen ihre Integrität, fordern die eigene Moral heraus und lachen zusammen im dichten Haschischrauch. So umgeht "Roads" die Gefahr einer Freundschaftserzählung, die sich lediglich an Start- und Zielpunkt einer zurückzulegenden Strecke orientiert.

Jugendlicher Hedonismus und existenzielle Not

Die präzisen Dialoge erzählen ebenso viel über die Figuren und ihre inneren Herausforderungen wie gemeinsames Schweigen und eindringliche Blicke. In der Zum Inhalt: Montage entstehen dadurch dichte emotionale Strukturen, die zwischen Szenen voller jugendlichem Gebaren und Hedonismus hervorblitzen. So übt sich "Roads" , ähnlich wie Schippers Überraschungserfolg Zum Filmarchiv: "Victoria" (DE 2015), in mäanderndem Erzählen: Auf Phasen der Ziellosigkeit folgen äußerst pointierte dramatische Momente, die stets die existenzielle Situation der Jungen ins Gedächtnis rufen. Jede sonnige Straßenromantik denkt gleichzeitig die verregnete Gosse als Gegenbild mit.

Roads, Szene (© Studiocanal GmbH)

Den Genremustern des Roadmovies entsprechend, muss sich die Freundschaft von Gyllen und William trotzdem in aufeinanderfolgenden Umständen beweisen: Nach einer Strandparty müssen sie das Wohnmobil freischaufeln, ein weiterer komplizierter Grenzübertritt steht an, vor einem französischen Imbiss erfahren sie rassistische und homophobe Anfeindungen. Zunehmend sehen sie sich Sphären des Anderen gegenüber, die ihnen verschlossen bleiben, wenn Gyllen auf seinen biologischen Vater trifft und William auf andere Kongolesen, unter denen er seinen Bruder wähnt.

Eine Freundschaft im Diskurs um soziale Unterschiede

In Calais entsättigen sich die zuvor sonnengetränkten Bilder in grauen Realismus. William und Gyllen sind plötzlich Teil eines aufgeheizten Diskurses um Asylrechte und soziale Unterschiede. Darüber hinaus muss sich ihre Freundschaft mit dem Ende einer geteilten Perspektive auseinandersetzen. Auch hier gelingt es dem Zum Inhalt: Drehbuch von Sebastian Schipper und Oliver Ziegenbalg, den Figuren einen Freiraum abseits moralischer Urteile zu geben. Fionn Whitehead und Stéphane Bak füllen diesen Raum mit einer tollen darstellerischen Leistung, die auch in der drückenden Lageratmosphäre von Calais authentisch bleibt. So entwickelt "Roads" eine Perspektive auf Identität und Interkulturalität, die den Problemen der "Flüchtlingskrise" nachspürt, sich aber nicht instrumentalisieren lässt. Denn letztlich steht die Entwicklung einer jungen Freundschaft im Fokus – unter den politischen Vorzeichen der europäischen Gegenwart.

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