Wenn die Zirkusartistin Kassandra mit dem geduldigen Esel Eo in der Manege ihre Kunststücke aufführt, ist das Publikum begeistert. Dem harmonischen Zusammenspiel der beiden geht die Dressur des Tieres durch die junge Frau voraus. Zwar liebt die Künstlerin Eo innig und umsorgt ihn wie ein Haustier, die übergroße Aufmerksamkeit macht den Esel jedoch auch gefügig und hilflos. Als einige Tierrechtsaktivist/-innen den Zirkus zur Aufgabe der Tiere zwingen, wird Eo in ein ungewisses Schicksal abtransportiert, für das sich niemand mehr verantwortlich fühlt. Zunächst verbleibt er in einer Dressurreitschule, wo er schon bald überflüssig ist. Ein Bauernhof, der ihn daraufhin aufnimmt, erscheint zunächst als ideale Umgebung. Dort gibt es eine artgerechte Haltung der Tiere, und der Hof wird von Gruppen von Kindern mit Behinderungen besucht, die das freie Beisammensein mit den Eseln sehr genießen. Doch Eo findet sich nicht in die neue Gemeinschaft ein und verweigert die Nahrung. Nach einer spontanen Visite seiner früheren Besitzerin Kassandra ist er sichtlich aufgewühlt und läuft schließlich fort. Eine gefährliche Reise durch Stadt und Land beginnt: Nur wenige Menschen sind dem Esel freundlich gesonnen.
Der Regisseur Jerzy Skolimowski, in den 1960er-Jahren Mitbegründer der polnischen Neuen Welle, knüpft mit
EO an einen Klassiker der Filmgeschichte an:
Zum Beispiel Balthasar (Au hasard Balthazar, FRA/SWE 1966) von Robert Bresson zeigt in eindringlichen Schwarzweiß-Bildern die Leidensgeschichte eines Esels, die der Film mit dem erlittenen Schmerz seiner Besitzerin verknüpft. Skolimowski variiert viele Motive aus Bressons Film, übersetzt sie damit in die Gegenwart und
in Farbe. In einem Punkt geht er sogar weiter:
EO konzentriert sich auf das Erleben und die Perspektive des Tieres. Immer wieder stellt die Kamera in
Groß- und Nahaufnahmen die Augen des Esels ins Zentrum, seine sich spitzenden Ohren oder die unruhig scharrenden Hufe. So wird Eo in seiner physischen Präsenz als empfindsames und leidendes Wesen für die Zuschauer/-innen wahrnehmbar. Oft übernimmt die Kamera auch die Perspektive des Tieres. Dabei arbeitet der Film mit
Weitwinkelobjektiven, die durch ihr ausgedehntes Blickfeld bei einer großen
Blendenöffnung auch Unschärfen mit aufnehmen. So entstehen ungewöhnliche und dynamische Aufnahmen, die den Versuch bilden, die Wahrnehmung des Esels in filmische Bilder zu übersetzen. Dabei berücksichtigte der Kameramann Michaeł Dymek das Wissen um die Unterschiede zwischen menschlichen und tierischen Blickfeldern, die durch frontale oder seitliche Positionen der Augen am Kopf entstehen. Auch die
Musik des Komponisten Paweł Mykietyn orientiert sich in eindrücklicher Weise an der Befindlichkeit des Esels. Eine besondere Rolle spielen
Szenen, die in grell rotes
Licht getaucht sind. Als ästhetisches Mittel bringt die Farbe in diesen Momenten Eos Gefühlsintensität zum Ausdruck, die in eine Spannung zu der Sprachlosigkeit des Tieres tritt und dadurch Situationen der Ohnmacht auf die Zuschauer/-innen überträgt. In anderen Szenen ist die rote Farbgebung nicht der Perspektive des Esels zugeordnet und verweist damit auf abstrakte Dimensionen wie die Zerstörung der Umwelt oder die Bedrohung durch einen nahenden Tod.
Im Fach Kunst könnte die experimentelle Ästhetik des Films ein Ausgangspunkt für die Frage nach einem Perspektivwechsel sein. Durch welche Kameraeinstellungen und
Montagetechniken gelingt es Skolimowski unsere gewohnte Wahrnehmung zu verschieben und für das Leid des Tieres zu öffnen? Wie wirken aus diesem Blickwinkel betrachtet die Menschen und welche Gesellschaftskritik lässt sich daraus ableiten? Weiterhin ließe sich im Ethik- oder Religionsunterricht diskutieren, welche ethischen Kriterien im Verhältnis zwischen Mensch und Tier zum Tragen kommen können. Ist die Domestizierung der Tiere wirklich zu ihrem Wohl, oder dient sie nur den menschlichen Bedürfnissen? Welche Rollen haben Nutztiere im Laufe der menschlichen Geschichte eingenommen und inwieweit werden diese durch ein Bewusstsein für das Leid der Tiere heute neu bewertet? Auch im Fach Philosophie könnte die Frage nach der Grundlage von Tierrechten Anstoß für eine umfassendere Reflexion des eigenen Verhältnisses zur Natur geben.
Arbeitsblatt zu Eo
Fächer: Ethik, Philosophie, ab 16 Jahren, ab 11. Klasse
Vor der Filmsichtung:
a) Analysieren Sie das Filmplakat. Setzen Sie die Gestaltung und den Filmtitel in Beziehung. Äußern Sie Vermutung zu Genre und Handlung des Films.
b) Lesen Sie die Zusammenfassung des Films aus dem Presseheft: „Ein Esel steht im Mittelpunkt von Jerzy Skolimowskis neuestem Film
EO. Bild- und tongewaltig zeigt der 84-jährige mehrfach preisgekrönte polnische Regisseur die Welt aus der Perspektive eines grauen Nutztieres und folgt ihm auf seinem Lebensweg durch Europa mit freudvollen und schmerzhaften Begegnungen."
Skizzieren Sie eine "freudvolle" und eine "schmerzhafte" Begegnung, die der Esel machen könnte. Stellen Sie diese anschließend Ihrer Klasse vor und erläutern Sie, wie Sie auf diese Idee gekommen sind (beispielsweise über Parallelen zu einem anderen Werk oder Ihre Kenntnisse zur Haltung von Nutztieren).
Während der Filmsichtung:
c) Achten Sie darauf, wo im Film sich das Rot des Filmplakats wiederholt. Inwiefern ist diese Farbe ein ästhetisches Leitmotiv des Films?
Nach der Filmsichtung:
d) Vergleichen Sie die Filmhandlung mit Ihren Ideen aus Aufgabe b). Gibt es Begegnungen im Film, die Sie sich in ähnlicher Form beschrieben haben?
e) Eos Reise von Polen nach Italien ist episodisch erzählt. Fassen Sie die Stationen und Begegnungen mit Menschen in Gruppenarbeit zusammen und erläutern Sie, inwiefern Eos Reise ein ständiger Wechsel zwischen Gefangenschaft und Freiheit, zwischen Abhängigkeit und Autonomie ist. Erklären Sie ebenso die
Schlussszene des Films.
f) Charakterisieren Sie den Umgang der Menschen mit Eo und mit Tieren im Allgemeinen in der Realität . Inwiefern werden die Menschen darin ihrer "Verantwortung […] für das Tier als Mitgeschöpf dessen Leben und Wohlbefinden zu schützen" (§1
Tierschutz-Gesetz) gerecht?
g) Erklären Sie, mit welchen filmästhetischen Mitteln, insbesondere
Kameraperspektive und
Ton, der Film die subjektive Perspektive von Eo erzeugt. Wie gelingt es dem Film, den Zuschauenden die Welt aus den Augen von Eo begreifen zu lassen? Wie fühlt sich dabei insbesondere das Filmende für Zuschauenden an?
h) Lesen Sie den zweiten Absatz im
Interview. Erläutern Sie, welche (menschlichen) Gefühle Eo im Laufe der Geschichte zugeschrieben werden und wie diese für den Zuschauenden erfahrbar gemacht werden.
i) Welchen Umgang sollen wir Menschen mit Tieren pflegen? Schreiben Sie ausgehend von Ihren Ergebnissen aus Aufgabe e) bis h) einen Kommentar. Vertiefend können Sie sich
hier in Positionen zur Tierethik einlesen.
Alternativ:
Inwiefern schafft es
EO, die Zuschauenden für tierethische Themen zu sensibilisieren? Verfassen Sie eine Filmkritik.
Autor/in: Silvia Bahl (Filmbesprechung), Dr. Almut Steinlein (Arbeitsblatt), 21.12.2022
Mehr zum Thema auf kinofenster.de:
Gunda (Filmbesprechung vom 18.08.2021)
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