Kategorie: Filmbesprechung
"Die Möllner Briefe"
Dokumentarfilm über die Opfer der rassistischen Mordanschläge von Mölln am 23. November 1992
Unterrichtsfächer
Thema
Hinweis für Lehrer/-innen: Der Dokumentarfilm "Die Möllner Briefe" zeigt wiederholt Hinterbliebene der rassistischen Mordanschläge in äußerst emotionalen Momenten. Mehrfach schildern sie grausame Details der Ereignisse. kinofenster.de empfiehlt den Film (FSK 12) aufgrund dieser sensiblen Thematik für den Unterricht ab der 9. Klasse. Allerdings liegt es in ihrem Ermessen, ob der Film für ihre jeweilige Lerngruppe geeignet ist. Grundsätzlich empfiehlt es sich, den Film vor der Sichtung und dem Einsatz im Unterricht anzuschauen und dann zu entscheiden.
Am 23. November 1992 verübten Jugendliche in Mölln zwei rassistisch motivierte Brandanschläge auf Wohnhäuser türkischstämmiger Familien. Drei Menschen kamen dabei ums Leben, zahlreiche wurden verletzt. Die Morde von Mölln waren Teil einer Reihe rechtsextremistischer Anschläge, die Anfang der 1990er-Jahre Deutschland erschütterten. Öffentliche Gedenkveranstaltungen erinnern seit einigen Jahren an diese Verbrechen – die Betroffenen selbst spielten dabei jedoch lange Zeit nur eine "Nebenrolle", auch in Filmen, die sich mit dem Thema beschäftigten. Die Regisseurin Martina Priessner greift in Die Möllner Briefe dagegen ihre Perspektive auf und erinnert nicht zuletzt an die drei Verstorbenen, denen ihr Zum Inhalt: Dokumentarfilm gewidmet ist: Bahide Arslan (51), ihre Enkelin Yeliz (10) und deren Cousine Ayşe Yilmaz (14).
Vergessene Briefe
Ausgangspunkt des Films ist ein bemerkenswerter Fund im Möllner Stadtarchiv: Bei Recherchen stieß eine Studentin 2019 auf hunderte Briefe aus ganz Deutschland, die sich nach den Brandanschlägen an die Familien der Opfer in Mölln richteten: Solidaritätsbekundungen, Zeichnungen von Kindern, Beileidsschreiben und Karten, die Trost spenden und den Hinterbliebenen Mut und Hoffnung machen sollten. Doch die Briefe haben die Familien damals nicht erreicht. Von der Stadtverwaltung geöffnet und zum Teil sogar beantwortet, landeten sie im Archiv und gerieten in Vergessenheit. Wie konnte das passieren?
Individuelle Traumata
Einer der Hauptakteure des Films ist İbrahim Arslan. Er hat den Brandanschlag als kleines Kind überlebt und kämpft bis heute über die Stadtgrenzen von Mölln hinaus um eine Form des Erinnerns, die die Opfer in den Mittelpunkt stellt. Seit 2013 organisiert er die "Möllner Rede im Exil", eine jährliche Veranstaltung, die Opfern rechtsextremer und rassistischer Gewalt eine Stimme geben soll. Seit dem Auffinden der Briefe versucht İbrahim Arslan außerdem, sie einer breiten Öffentlichkeit bekannt zu machen. Der Film begleitet ihn an Schulen, wo er Jugendlichen seine Geschichte erzählt, zeigt ihn bei Terminen mit dem Bürgermeister und dem Archivar der Stadt oder im Gespräch mit jenen Menschen, die vor mehr als 30 Jahren die Briefe verfasst haben. Daneben kommen weitere Überlebende zu Wort: İbrahims Bruder Namık, seine Schwester Yeliz (sie trägt denselben Vornamen wie die ältere, beim Anschlag getötete Schwester) und ihre Mutter Hava, aber auch Angehörige weiterer betroffener Familien. Die Gespräche offenbaren eindringlich die schweren Traumata der Hinterbliebenen, mit denen sie auf jeweils eigene Weise bis heute leben und umgehen müssen. So leidet Namık an Übergewicht, sein Körper erscheint wie eine massive Schutzhülle, die er erst jetzt, nach über 30 Jahren, in einer Therapie abzulegen beginnt. Vergessen will er die Brandnacht jedoch nicht. In einer Szene lässt er sich sogar das von Flammen umgebene Haus auf den Unterarm tätowieren. Das Geschehene bleibt für immer "eingebrannt".
Perspektive der Betroffenen
Die Täter und ihre rassistischen Motive spielen in "Die Möllner Briefe" keine Rolle. Was zählt, sind allein die Geschichten der Betroffenen. Indem sie den Überlebenden Zeit lässt, ihre eigenen Gefühle und Gedanken zu beschreiben und auf einen einordnenden Kommentar (Glossar: Zum Inhalt: Voiceover) verzichtet, versucht Martina Priessner, die individuelle Tragweite der Ereignisse zu vermitteln – und so den Weg für Solidarität und Empathie zu ebnen. Längere Interviewsequenzen (Glossar: Zum Inhalt: Sequenz) wechseln sich dabei mit stillen Beobachtungen ab, etwa wenn im Kölner Dokumentationszentrum und Museum für die Migration in Deutschland (Zum externen Inhalt: DOMiD (öffnet im neuen Tab)) Gegenstände aus der Brandnacht sorgsam fotografiert und verzeichnet werden, darunter die Ohrringe, die Yeliz Arslan trug, als sie ums Leben kam. Als zusätzliches stilistisches Mittel zeigt der Film mehrfach Großaufnahmen (Glossar: Zum Inhalt: Einstellungsgrößen) der Möllner Briefe, die inzwischen von DOMiD digitalisiert wurden. Aus ihnen spricht eine unmittelbare persönliche Anteilnahme am Leid der Hinterbliebenen, die im Gegensatz zur bürokratischen Nüchternheit steht, mit denen die Zusendungen seinerzeit verwaltet wurden.
Auf die Frage, warum die Briefe die Familie nicht erreichten, gibt es im Film keine befriedigende Antwort. Der ehemalige Bürgermeister von Mölln, der 1992 im Amt war, wollte sich dazu nicht äußern. Im Archiv entdeckt İbrahim Arslan zwar ein Schreiben, aus dem hervorgeht, dass es damals Versuche gab, die Familien der Opfer zu kontaktieren, um ihnen die Briefe zu übermitteln, aber anscheinend ohne Erfolg. Zum Inhalt: Szenen, die den aktuellen Bürgermeister und den schon zur Zeit der Anschläge tätigen Archivar mit den Betroffenen zeigen, belegen einerseits, dass die lange Zeit unterschätzte Bedeutung der Briefe inzwischen anerkannt wird. Gleichzeitig offenbaren sie, wie schwer sich Behörden und Politik nach wie vor im Dialog auf Augenhöhe mit den Hinterbliebenen tun. Welche Gründe es letztlich dafür gab, dass die Briefe im Archiv in Vergessenheit gerieten, erscheint am Ende nebensächlich. Denn auch wenn die Hinterbliebenen sie erst nach Jahrzehnten lesen konnten, verdeutlicht der Film, dass sie ihre Bedeutung – als Zeichen der Solidarität und der Unterstützung für die Opfer von rassistischer Gewalt – nicht verloren haben. Vor dem Hintergrund einer wachsenden Bedrohung der Demokratie sind sie aktueller denn je.
Weiterführende Links
- External Link Film-Webseite des Verleihs
- External Link filmportal.de
- External Link Vision Kino: FilmTipp
- External Link DOMiD: Briefe der Solidarität: "Möllner Briefe"
- External Link bpb.de: Vor 30 Jahren: Rechtsextremer Brandanschlag in Mölln (Artikel von 2022)
- External Link APuZ: Mölln, Solingen und die lange Geschichte des Rassismus in der Bundesrepublik
- External Link Vision Kino: Dokumentarfilme im Unterricht
- External Link bpb.de: "Hört uns zu!" Gedenken an Betroffene rechter Gewalt (Podcast)
- External Link Amadeu Antonio Stiftung: 5 Fragen an İbrahim Arslan