Kategorie: Hintergrund
Surrealismus im Film – Reisen ins Unbewusste
Avantgarde goes Pop: ein Kurztrip durch die Geschichte surrealistischer Bewegtbilder – von den subversiven Filmklassikern der 1920er bis zu KI-generierten Clips der Gegenwart

Keine Hauptstadt Europas ist Anfang des 20. Jahrhunderts so beliebt bei Künstler/-innen wie Paris. In den Szenelokalen und Salons entsteht eine neue Geisteshaltung, die Malerei, Literatur und Theater nicht mehr als präzise Bearbeitung der Realität versteht. Den Künstlergruppen, die sich dort bilden, geht es zunehmend um einen individuellen Zugang zur Welt sowie einen symbolischen Gehalt ihres Schaffens. In diesem Umfeld wächst der Schriftsteller und Theoretiker André Breton heran. Begeistert von experimenteller Lyrik und der Traumdeutung Sigmund Freuds, gründet er 1921 zusammen mit den Dichtern Louis Aragon und Philippe Soupault die Gruppe der Surrealist/-innen. Die Mitglieder zielen auf Darstellungsformen, die "über" dem Realismus liegen ("sur le réalisme"), also auf assoziativem Wissen und dem Unbewussten basieren. Per Hypnose, Traumprotokollen oder provozierten Zufällen wollen sie neue künstlerische Perspektiven erkunden.
Filmstill aus EMAK-BAKIA, picture alliance / COLLECTION CHRISTOPHEL | Man Ray
Bereits seit seinen Anfängen wird das Kino mit einer traumhaften Schilderung der Welt in Verbindung gebracht, weshalb es für die Surrealist/-innen eine zentrale Stellung einnimmt. Zu den Vorreitern des surrealistischen Films gehören der später als Fotokünstler berühmt gewordene Man Ray oder der Berliner Dadaist Hans Richter. In Filmen wie "Emak Bakia" (FR 1926) oder "Filmstudie" (DE 1925) arbeiten sie mit belebten geometrischen Formen und Zum externen Inhalt: Doppelbelichtungen (öffnet im neuen Tab) von Gesichtern an ersten filmischen Ausdrücken des Surrealismus. Zwar dreht René Clair mit "Entr’acte" (FR 1924) einen früheren surrealistischen Film, allerdings wird der Regisseur von der Gruppe um André Breton diskreditiert – der Film erreiche nicht die Tiefe des Unbewussten.
Der Rasiermesserschnitt durch das Auge
Eine Methode, mit der diese Tiefe erreicht werden soll, ist die "écriture automatique" (automatisches Schreiben). Ohne nachzudenken, werden dabei psychische Vorgänge möglichst unmittelbar aufgeschrieben, teils in tranceartigem Zustand. Der erste Film, der auf diesem Verfahren beruht, gilt als Klassiker des Surrealismus: Zum Filmarchiv: "Ein andalusischer Hund" ("Un chien andalou", FR 1929) von Salvador Dalí und Luis Buñuel.
Filmstill aus EIN ANDALUSISCHER HUND, picture alliance / Everett Collection | Courtesy Everett Collection
Basierend auf je einem ihrer Träume, zeigt der 16-minütige Film eine lose Folge absurder Motive und Handlungen. Mit der Eröffnungssequenz, in der ein Mann einer Frau mit einem Rasiermesser das Auge zerschneidet, nachdem eine schmale Wolke dieselbe Bewegung am Vollmond vollzieht, schufen Dalí und Buñuel den ikonischen Schockmoment des surrealistischen Kinos.
Entgegen Dalís und Buñuels Absichten begeistert der Film die Pariser Bourgeoisie. Auch deshalb kann ihre zweite Zusammenarbeit, "Das goldene Zeitalter" ("L’Âge d’or", FR 1930), als Reaktion auf diese ungewollte Popularität gesehen werden. Da der etwa einstündige Film Zum Inhalt: Szenen enthält, die als gotteslästerlich und sexuell anstößig für Aufsehen sorgen, wird er nach der Premiere verboten und knapp fünfzig Jahre nicht öffentlich aufgeführt.
Kirche, Sexualität und Traumwelt verbindet bereits, wenn auch subtiler, "Die Muschel und der Kleriker" ("La coquille et le clergyman", FR 1928) von Germaine Dulac. In dem mittellangen Zum Inhalt: Stummfilm verzehrt sich ein Priester an seinen unerfüllten sexuellen Fantasien. In Zum Inhalt: Zeitlupen, Zum Inhalt: Überblendungen und einer symbolistischen Bildsprache arbeitet die Regisseurin an einer genuin surrealistischen Filmästhetik. Die männerdominierte Gruppe um André Breton verkennt den Film allerdings als angebliche Simulation des Surrealismus, weshalb er lange Zeit vergessen bleibt.
Surrealismus zwischen Avantgarde- und Unterhaltungskino
Filmstill aus MESHES OF THE AFTERNOON, picture-alliance / Mary Evans Picture Library | -
Der Streit um "korrekte" Darstellungen von Surrealismus markiert den wichtigen Unterschied zwischen der Pariser Gruppe und der weiteren, sich bis in die Gegenwart erstreckenden surrealistischen Strömung in Malerei, Literatur, Film und Theater. Nachdem die Gruppe um Breton in den 1930ern zerfällt, entstehen international neue Bearbeitungen des Pariser Surrealismus. In diese Phase fällt Zum Filmarchiv: "Meshes of the Afternoon" (USA 1943) von Maya Deren und Alexander Hammid. Der Zum Inhalt: Kurzfilm zeigt eine namenlose Protagonistin, die durch ein Haus wandelt und dabei Metamorphosen ihrer selbst begegnet. Symbolträchtige Gegenstände ziehen sich durch den 14-minütigen Film, die auf unbewusste psychische Zustände hindeuten. Die poetische Verarbeitung von Depression und dissoziativer Persönlichkeit gilt bis heute als stilbildend.
Doch nicht nur das Avantgarde-Kino ist in dieser Zeit stark vom Surrealismus geprägt. Durch den Erfolg Dalís, aber auch die Popularisierung von Freuds Psychoanalyse geraten Träume und das Unbewusste in den Fokus der Popkultur. Ein Beispiel dafür ist Alfred Hitchcocks Zum Inhalt: Thriller "Ich kämpfe um dich" ("Spellbound", USA 1945), in dem der Protagonist unter Gedächtnisverlust leidet und eine fremde Identität lebt, bis er durch die Liebe einer Psychoanalytikerin von einem verdrängten Kindheitstrauma erlöst wird. Die berühmte Traumsequenz weist surrealistische Motive auf, etwa ein Bühnenvorhang aus Augen oder eine gesichtslose Person, die ein zerlaufendes Wagenrad in der Hand hält. Entworfen wurde sie von Dalí, der in die USA emigriert war.
Filmstill aus TÜCKEN DES GESPRÄCHS, picture alliance / Everett Collection | Courtesy Everett Collection
Ab den 1960er-Jahren differenzieren sich surrealistische Darstellungsformen international weiter aus. Zwei Regisseure, die diese Entwicklung vorantreiben, sind der Tscheche Jan Švankmajer sowie der Chilene Alejandro Jodorowsky. Švankmajers Zum Inhalt: Animationsfilme arbeiten mit Elementen des Grotesken und einer kindlichen Perspektive auf psychische Phänomene. Per Zum externen Inhalt: Stopp-Trick-Verfahren (öffnet im neuen Tab), elaborierten Puppen und verfremdeten Realfilm-Elementen entsteht ein sieben Jahrzehnte umspannendes Werk, das Regiegrößen wie Terry Gilliam oder David Cronenberg beeinflusst. Jodorowskys Filme hingegen, etwa "Fando und Lis" ("Fando y Lis", MX 1968) oder "Montana Sacra – Der heilige Berg" ("La Montaña sagrada", MX/USA 1973), durchzieht eine psychedelische, religiös überhöhte Bildsprache mit Hang zum Mystizismus. Mit seiner extremen Bildsprache inspiriert er etwa den dänischen Regisseur Nicolas Winding Refn, der Jodorowsky "Only God Forgives" (FR/DK 2013) widmet.
In dieser Linie ist auch die Filmografie David Lynchs zu sehen. Mit "Blue Velvet" (USA 1986) oder "Lost Highway" (USA/FR 1997) beschreitet er den engen Pfad zwischen Surrealismus und Hollywood-Erzählkino, indem er absurde Komik und fließende, mithin wechselnde Identitäten einfließen lässt. In der Serie "Twin Peaks" (Mark Frost/David Lynch, USA 1990-2017) konstruiert er ein filmisches Universum, das auf Traumdeutungen und abseitigen Gegenrealitäten des Unbewussten fußt. Erst nach Lynchs Erfolg können sich Filmemacher wie Michel Gondry ("Science of Sleep – Anleitung zum Träumen/La Science des rêves", FR 2006), Tarsem Singh ("The Cell", USA 2000) oder Spike Jonze ("Being John Malkovich", USA 1999) etablieren. Sie sind Vertreter einer Zum Inhalt: Regie-Generation, die Ende der 1990er in Werbeclips und Musikvideos eine spielerische, surrealistische Handschrift erproben, die sie später in ihren Zum Inhalt: Spielfilmen fortführen.
Die surrealistische Ästhetik erobert den digitalen Bilder-Kosmos
Doch längst reicht eine surrealistische Ästhetik über klassische audiovisuelle Medien hinaus. Die digitale Meme-Kultur orientiert sich seit den späten 1990ern an den disruptiven Erzählweisen des Surrealismus: Sei es das zu dieser Zeit bekannt gewordene "Dancing Baby", ein animiertes 3D-Rendering eines tanzenden Babys, das vor schwarzem Hintergrund zum Song Hooked on a Feeling tanzt, oder YouTube- und TikTok-Trends wie die "Skibidi Toilet"-Videos. Letztere rückte etwa Jens Jessen, Feuilletonist der Wochenzeitung Die Zeit, Zum externen Inhalt: in einem viralen Reaktionsvideo (öffnet im neuen Tab) in die Nähe des Werks von Švankmajer. Besonders die Verbreitung von Text-zu-Bild-Generatoren führt derzeit zu einer Neuverortung der surrealistischen Ästhetik. So greifen etwa die Charaktere des Italian Brainrot – KI-generierte Bilder eines Hais in blauen Sneakern oder einer Ballerina mit Kaffeetasse statt Kopf – auf verblüffende Weise Topoi klassischer Surrealist/-innen wie Dalí auf. Das absurde Nebeneinander von teils drastischen Motiven, das die surrealistische Ästhetik seit über hundert Jahren prägt, funktioniert nach wie vor: In der Aufmerksamkeitsökonomie von Apps wie TikTok, in der Reaktionen und Reichweite finanziell vergütet werden, nimmt die surreale Provokation allerdings andere Vorzeichen an – vom bürgerlichen Schockmoment zum Geschäftsmodell.