"Wir kennen dich nicht. Aber wir hassen dich." Es sind harte Worte, mit denen Annie von den anderen Kindern auf dem Spielplatz abgewiesen sind. Und sie machen deutlich, wo das Mädchen steht: Sie ist eine Außenseiterin, die gemieden wird, weil sie so seltsam ist, so unnahbar und vor allem so unberechenbar. Meist zieht sie allein auf ihrem bunt besprühten Fahrrad durch die Gegend, schießt mit einem Farbgewehr auf Kuhkadaver, stiehlt Lebensmittel aus dem örtlichen Supermarkt oder bedroht wahllos irgendwelche Leute über das Telefon. Ihren Vater, mit dem sie allein in einem alten Haus in einem Kaff in Texas lebt, stört dies kaum. Er weiß ohnehin nichts über seine Tochter. Eines Tages jedoch verändert sich Annies Situation. Sie hört im Wald einen Hilferuf aus einem tiefen Schacht im Boden. Aber Annie hilft nicht. Sie bringt der alten Frau, die dort unten gefangen ist, etwas zu essen und genießt ihre neue machtvolle Rolle.
Mit
Kid-Thing hat David Zellner einen kompromisslosen und harten Film gedreht, der mit seinen quälend langen und oft statischen Einstellungen an die Regiearbeiten von David Lynch erinnert und wie jener einen Blick in menschliche Abgründe wirft. Annie ist alles andere als sympathisch – und der Film begegnet ihr mit einer distanzierten und auch in der
Farbgebung kühlen Inszenierung, die ihre grausamen Seiten umso stärker sichtbar macht. Dabei erfährt das Publikum kaum etwas über Annies Leben. Aber aus den einzelnen Beobachtungen ergibt sich das Bild einer vollkommen dysfunktionalen Familie: Die Mutter taucht nicht auf, zwischen dem Vater und seiner Tochter herrscht Sprachlosigkeit, jegliche Form von Mitgefühl fehlt. Annie ist der Prototyp eines verwahrlosten Kindes, das seine Gefühle nur durch Gewalt auszudrücken vermag. Sie lebt abseits jeglicher moralischer Werte und missbraucht schließlich eine tragische Lage, um ihren eigenen Problemen entfliehen zu können.
Gerade die distanzierte Haltung des Regisseurs und die scheinbar gefühllose junge Protagonistin fordern zu einer Auseinandersetzung heraus. So lässt sich etwa im Religions- oder Ethikunterricht hinterfragen, inwiefern Annies familiäres Umfeld ihr Verhalten geprägt hat, weshalb sie keinen Anschluss findet und welche Bedeutung die alte Frau für sie hat. Dabei kann auch diskutiert werden, wie die Eingesperrte in diese mysteriöse Situation geraten sein könnte und warum Zellner die Gründe dafür nicht erklärt. Zu einer Analyse lädt zudem die spröde Inszenierung ein, die Annies Grausamkeit umso schockierender wirken lässt, und zudem den Stillstand in Annies Leben auch bildlich durch Bewegungslosigkeit ausdrückt. Das durch die US-amerikanische Verfassung verbriefte Recht auf Leben, Freiheit und das Streben nach Glück jedenfalls ist in dem hier gezeigten US-amerikanischen Hinterland nur eine weit entfernte Utopie.
Autor/in: Stefan Stiletto, 20.08.2013
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