Kinofilmgeschichte
Kinofilmgeschichte XXIX: In der Fremde
Elend ist ein anderes Wort für Fremde. Das war 1975 in einem Film zu erfahren, der den Titel In der Fremde (Dar Ghorbat, BRD, Iran) trug. Der iranische Filmemacher Sohrab Shahid Saless erzählte von dem türkischen Gastarbeiter Husseyin im Westberliner Bezirk Kreuzberg. Am Tag arbeitet Husseyin an einer Stanzmaschine. Am Abend ist er allein. Seine Heimat hat Husseyin verlassen, die Fremde will ihn nicht haben. Er ist einsam, lebt buchstäblich im "Elend" – denn etymologisch stammt der Begriff von dem mittelhochdeutschen "ellende" und bedeutet fremd, verbannt, unglücklich.
Krisen der Identität
Wer seine Heimat verlässt, riskiert stets seine Identität. Denn Heimat, vielleicht Volk, vielleicht Nation, vielleicht Land – sie alle haben ein bestimmtes Verhalten geprägt, stützen Emotionen, bilden den kulturellen Hintergrund einer Persönlichkeit aus. Der Wechsel in eine neue Heimat, zu fremdem Volk und fremder Nation, muss zwangsläufig zu innerlichen Erschütterungen führen. Die Identität von Migranten/innen gerät in Spannung zur Forderung nach Anpassung an die kulturellen und sozialen Normen des Zuzugslandes. Sie werden mit den Verlusten emotioneller Sicherheiten und traditioneller Gewohnheiten konfrontiert. Die Folgen sind meist Krisen und Konflikte.
Dennoch ist die Geschichte der Menschheit auch eine Geschichte der Wanderungen. Zu ihren Helden/innen gehören der biblische Urvater Abraham oder der Trojaner Aeneas, der aus seiner brennenden Stadt flieht und nach langer Irrfahrt in Italien eine neue Heimat findet. Von diesen wie von vielen anderen Migranten/innen hat auch das Kino immer wieder erzählt.
Idee der Umerziehung
Zum Beispiel die Erfahrungen eines russischen Ehepaares, das 1912 in den Vereinigten Staaten ankommt und dort sozialisiert und kultiviert wird. Anfänglich behandelt der Mann seine Frau als Arbeitstier, er schlägt sie, verfügt über sie, doch allmählich wird er von vorbildlichen Amerikanern umerzogen. Bereits dieser sehr frühe amerikanische Film mit dem Titel Making an American Citizen (inszeniert übrigens von Alice Guy-Blanché, einer der wenigen Regisseurinnen der kinematografischen Pionierzeit) ist aus einem Blickwinkel gestaltet, der bis heute oftmals das Thema der Migration dominiert: Dem Einwanderungsland wird ein höheres zivilisatorisches Niveau als dem Herkunftsland zugestanden. Migranten/innen müssen erzogen werden, sollen sich anpassen, werden dadurch – so die weltanschauliche Botschaft – "emporgehoben" in eine bessere Gesellschaft. Häufig verlaufen auch die aktuellen Migrationsdebatten in Deutschland nach diesem Muster.
Amerikanischer Gründungsmythos
Kulturelle Identität wird durch diesen pädagogischen Prozess in Frage gestellt; dennoch wird er als notwendig erachtet. Deswegen reagierte das amerikanische Publikum mit Zurückhaltung auf Charlie Chaplins The Immigrant (USA 1917), in dem er sich über den feindseligen Empfang europäischer Auswanderer/innen in der Neuen Welt lustig machte. Schließlich gehören Immigration und Landnahme zum Gründungsmythos der USA, der im Kino häufig als Epos von Individualität, Liebe und Integration geschildert wird. Eine solche Erfolgssaga schuf Ron Howard 1992 mit dem Hollywood-Film In einem fernen Land (Far and Away, USA) am Beispiel eines irischen Paares. Der Film endet mit dem Oklahoma Land Run im Jahr 1889, einem berühmten Wettrennen um Siedlerland. Eine ganz andere, zutiefst pessimistische Migrationsgeschichte erzählt Michael Cimino in Heaven's Gate (USA 1980), in dem amerikanische Viehbarone osteuropäische Einwanderer/innen vertreiben und sie sogar auf Todeslisten setzen.
Kontinent der Träume
Trotz solcher Realitäten, wie sie Cimino schildert, ist Amerika bis heute der Kontinent der Träume für Menschen aus aller Welt geblieben. Doch die Integration bleibt schwierig – oft über Generationen hinweg. Das ist das Thema von Mira Nairs neuem Film
The Namesake – Zwei Welten, eine Reise (USA, Indien 2006). Bereits der Titel weist auf einen schwierigen Schritt für Migranten/innen hin: die Anpassung des eigenen Namens an die Sprache der Fremde. Der Namen aber, das haben schon alte Legenden gewusst, ist der Träger der Seele. Die europäische Sicht auf den amerikanischen Gründungsmythos lieferte bereits Anfang der 1970er-Jahre der schwedische Regisseur Jan Troell mit dem gewaltigen Zweiteiler
Emigranten (Utvandrarna, Schweden 1971) und
Das neue Land (Nybyggarna, Schweden 1972). Emanuele Crialese greift sie jetzt in
Golden Door (Italien, Frankreich 2006) auf: Italienische Auswanderer/innen auf einem Schiff zwischen den Kontinenten, im Niemandsland, gestrandet zwischen Traum und Wirklichkeit.
Betrügerische Schlepper
In Europa wurde die Migration erst nach dem Zweiten Weltkrieg gesellschaftlich relevant und damit auch zum Kinostoff. Weg der Hoffnung (Il cammino della speranza, Italien 1950) von Pietro Germi, einer der ersten europäischen Filme zu diesem Thema, beschreibt die Einwandernden als Opfer von betrügerischen Schleppern und verlogenen Arbeitsvermittlern. Die Sizilianer, die nach Betrug und Geldverlust in Frankreich eintreffen, werden als Hilf- und Mittellose wiederum zu Opfern von Ausbeutern. Integration ohne Identitätsverlust aber kann nur gelingen, wenn dem Menschen in der Fremde die Würde nicht genommen ist.
Verstehen können
Zum Erhalt der Würde gehören zwei wichtige Aspekte: die Kommunikationsmöglichkeit der Eingewanderten und die Kommunikationsbereitschaft der Einheimischen. In
Katzelmacher (BRD 1968), Rainer Werner Fassbinders Parabel über die Fremdheit, sind beide nicht gegeben. Jorgos, der "Griech aus Griechenland", versteht die jungen Deutschen in der Provinz schon sprachlich nicht, und diese verweigern ihm jedes soziale Verständnis. Der Fremde bleibt ausgegrenzt und dient lediglich als "Blitzableiter" für Aggressionen und Frustrationen. Fassbinders zweiter Film zur Lage der Gastarbeiter/innen in Deutschland,
Angst essen Seele auf von 1973, führt die physiologischen Folgen solcher Chancenlosigkeit vor. Ali aus Afrika bekommt ein Magengeschwür. Der Körper reagiert auf den Konflikt zwischen den Kulturen.
Zwischen Integration und Tradition
Die interkulturelle Problematik wurde zu einem wichtigen Thema im deutschen Film, das zunehmend auch von Regisseuren/innen mit Migrationshintergrund gestaltet wurde. 1987 hat Hark Bohm in
Yasemin erstmals im deutschen Kino eine junge Türkin im Konflikt zwischen Integration und Tradition dargestellt und damit die Bruchstellen ihrer Identität deutlich gemacht. Diese Brüchigkeit wurde 2004 von Regisseur Fatih Akin in
Gegen die Wand weiter zugespitzt, wo die Protagonistin offen gegen die Traditionen der Elterngeneration rebelliert. Akins kraftvoller Film hat das Thema aus dem diskursiven Arthouse-Getto in die Plakativität eines Publikumserfolgs befreit.
Feste der Lebensfreude
Inzwischen handeln viele Filme vom Alltag der Migranten/innen, der nicht nur aus Konflikten besteht, sondern auch Lebensfreude kennt. Komödiantisch und launig erzählen sie von einer mehr oder weniger gelungenen Integration und der Erweiterung der eigenen Identität durch die andere Kultur. Dazu gehören Titel wie
Tee im Harem des Archimedes (Le Thé au harem d'Archimède, Mehdi Charef, Frankreich 1985),
East is East (Damien O'Donnell, England 2000),
Jalla! Jalla! (Josef Fares, Schweden 2002),
Solino (Fatih Akin, Deutschland 2002), oder
My Big Fat Greek Wedding (Joel Zwick, USA, Kanada 2002).
Schlachtfeld der Kulturen
Zugleich jedoch hat Spike Lee in
Do the Right Thing (USA 1989) darauf hingewiesen, dass Fremdheit, Ausgrenzung, rassistische Aggressivität auch nach Jahrzehnten der Integration im amerikanischen Schmelzkessel der Kulturen nur unter einer hauchdünnen sozialen Decke verborgen sind. Und Mathieu Kassovitz richtet in
Hass (La haine, Frankreich 1995) die Kamera auf das Schlachtfeld der Kulturen in den französischen Vorstädten. Dabei hat er auf eine bedrohliche Frontstellung aufmerksam gemacht: Womöglich endet der Versuch der Integration im sozialen Abseits der Parallelwelten. Kassovitz' Helden sind ein Jude, ein Schwarzafrikaner und ein Araber, ihr gemeinsamer Gegner ist die französische Ordnungsmacht. Töten und Sterben sind ins Kalkül gezogen. Das Elend der Fremde ist nicht überwunden.
Autor/in: Herbert Heinzelmann, 01.06.2007
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