Der Beginn einer Reise
Was die 12-jährige Kattaka am Heiligabend erlebt, ist keine schöne Bescherung, sondern eine böse Überraschung: Nach dem Anruf eines gewissen Alexej reagieren Kattakas Eltern äußerst nervös. Wenig später erklären die hochschwangere Mutter und ihr verlegener Ehemann, dass es in Kattakas Leben einen Menschen gibt, von dem sie bislang nichts wusste: ihren leiblichen Vater, den Anrufer Alexej. In diesem Augenblick gerät die intakte Welt des Berliner Großstadtkindes ins Wanken. Aber Kattaka hat einen sympathischen Dickschädel; sie setzt durch, dass die Nachbarin Lene Graumann mit ihr am nächsten Tag nach Stettin fährt, wo das Frachtschiff, auf dem Alexej arbeitet, vor Anker liegt. Lene ist Mitte siebzig, eine handfeste Frau, die viel raucht, mit der Motorsäge umzugehen weiß und einen in die Jahre gekommenen Kleinbus der DDR-Marke Barkas fährt.
Der Nachbarsjunge als Sidekick
Damit sind die Zutaten für die Geschichte beinahe komplett. Es fehlt noch der Nachbarjunge Knäcke, der sich aus Abenteuerlust im Kofferraum versteckt. Er sorgt als eine Art Sidekick in den folgenden Tagen dafür, dass Kattakas Suche nach dem Vater und der eigenen Identität durch den einen oder anderen flotten Spruch aufgelockert wird – aber nicht nur das: Knäcke transportiert die Vorurteile seines kleinbürgerlichen Elternhauses ("die Polen klauen alles, was 'nen Auspuff hat") und muss erleben, dass sie von der Realität gründlich widerlegt werden.
Die Suche nach der Herkunft
© schlicht und ergreifend Film GmbH / Pokromski Studio
Der Film lässt sich am besten als
Road Movie beschreiben – nicht weil er dessen Genre-Merkmale beispielhaft erfüllen würde, sondern weil er im Gegenteil einige von ihnen konterkariert.
Wintertochter ist leise und feinsinnig. Im Mittelpunkt stehen nicht, wie oft üblich, Männer auf der Suche nach der Freiheit, sondern ein Mädchen und eine Frau auf dem Weg in ihre Vergangenheit – zwei ungleiche Figuren, die nicht vor sich selbst fliehen, sondern auf ein Ziel zusteuern, mal ängstlich, mal entschlossen. Beide müssen in ihrem Leben etwas Wesentliches klären, um weiterleben zu können. Während Kattakas Vatersuche ins Stocken gerät, rückt Lenes Geschichte in den Mittelpunkt und damit, wie der eingefügte Filmausschnitt zeigt, auch ein Teil euorpäischer Geschichte. Im Winter 1944/45 floh sie als Kind über Danzig nach Westen und verlor dabei ihre Mutter. Sie gibt sich eine Mitschuld daran und hat Angst davor, an den Ausgangspunkt der Flucht zurückzukehren.
Wintertochter erzählt diese schmerzhafte Rückkehr als Komplementärhandlung zu Kattakas Aufarbeitung ihrer Patchwork-Existenz – ein originelles Erzählkonzept, das in der Umsetzung fast durchweg überzeugt. Die souveräne Bearbeitung dieses Stoffes ist umso höher zu bewerten, als sie nicht auf eine bereits erprobte literarische Vorlage zurückgreift.
Spiegelung der Geschichte
In den Lene-Episoden liefert Regisseur Johannes Schmid die stärksten Bilder. Als die Erinnerung die alte Frau am Steuer überkommt und sie den Wagen in einen Graben fährt, verwandelt sich die Situation in einen Spiegel geschichtlicher Realität: Zu Fuß irren Lene und ihr Anhang durch die eiskalte Landschaft Masurens. Ausgerechnet ein altes Bauernehepaar, dessen Zwangsarbeiter-Vergangenheit eine weitere Facette der deutsch-polnischen Geschichte liefert, hilft den Reisenden weiterzukommen. Der Film vermag hier traumatische Lebenserfahrungen in gegenwärtigen Bildern fortzuspinnen. Den Blick auf vereiste Landschaften begleiten karge, auf Andeutungen reduzierte
Klänge. Die
Farbgestaltung ist zurückgenommen: Von der blau-grauen Winterwelt ist es nicht mehr weit bis zum Schwarzweiß-Film – die Grenzen zwischen Heute und Damals verschwimmen.
Zwei Generationen, zwei Lebenswege
Die scheinbar weit auseinanderliegenden Lebenswege von Lene und Kattaka werden sensibel miteinander verwoben. Beide Figuren sind aufeinander angewiesen, um bis an das Ende der Reise zu gelangen. Die trotzige und willensstarke Kattaka gibt der Handlung entscheidende Wendungen, etwa wenn sie Lene zwingt, ihren Wunsch nach einer Reise in ihre Geburtsstadt Olsztyn auszusprechen. Als das Mädchen dort die Erschütterung der alten Frau miterlebt, findet es selbst den Mut, dem Vater offen gegenüber zu treten. Dass Kattaka auf dieser Reise ein gutes Stück reifer wird, spiegelt sich nicht zuletzt in ihren Beziehungen: Die naive Kinderfreundschaft zu Knäcke tritt zurück, am Ende dominiert die "erwachsenere" Beziehung zu dem polnischen Jungen Waldek.
Ansatzpunkt für Gespräche
Mit Nina Monka und Ursula Werner in den Hauptrollen ist
Wintertochter ausgezeichnet besetzt. Der Film kann als ein idealer Ausgangspunkt für ein Gespräch über die Vergangenheit Deutschlands und Polens dienen, besonders deshalb, weil in ihm nicht doziert wird: Es bleibt am Ende noch viel zu klären und zu erklären. Ursprünglich lief das Filmprojekt unter dem Titel "Wintervater". Der Wechsel zu
Wintertochter ist eine kluge Entscheidung, entspricht dieses Wort doch viel besser dem weiblichen Blickwinkel. Zudem lässt er sich mit etwas poetischer Fantasie auf beide Protagonistinnen beziehen.
Autor/in: Burkhard Wetekam, freier Autor und Redakteur in Hannover, 04.10.2011
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