Diese etwa zehnminütige Szene im letzten Drittel von Der große Gatsby (Baz Luhrmann, The Great Gatsby, Australien, USA 2013) ist in einer Suite des New Yorker Plaza Hotels situiert und zeigt den entscheidenden emotionalen Wendepunkt von Baz Luhrmanns Film. Anwesend sind: Jay Gatsby, Tom Buchanan und seine Frau Daisy, deren Cousin Nick Carraway sowie Jordan Baker, eine Freundin der Buchanans. Gatsby will Daisy dazu bringen, ihrem Mann zu erklären, dass sie ihn nie geliebt hat. Er wird damit scheitern. Toms Ziel ist es zunächst, Gatsby aus der Reserve zu locken, indem er ihn mit seinen Erkenntnissen über dessen ominöse Vergangenheit konfrontiert. Im weiteren Verlauf der Szene wendet Tom seine Aufmerksamkeit zunehmend Daisy zu. Er versucht, Gatsbys Absichten ihr gegenüber zu diskreditieren beziehungsweise ins Lächerliche zu ziehen – was ihm letztendlich auch gelingt. Buchanan geht als eindeutiger Sieger aus diesem Duell hervor. Bis kurz vor Schluss kommt die Szene gänzlich ohne Musik aus, was ungewöhnlich ist für diesen Film. Sie möchte sich voll und ganz auf den verbalen Schlagabtausch zwischen den beiden Kombattanten konzentrieren.
Das Verhalten der Figuren
Obwohl Gatsby die Situation herbeigesehnt und letztendlich auch herbeigeführt hat, ist er auffallend passiv. Von Anfang an dominiert ganz klar Buchanan das Geschehen – nicht nur verbal, sondern auch, was sein Verhalten im Raum anbelangt: Ihn zieht es immer wieder von der Peripherie ins Zentrum. Das Objekt der Begierde, Daisy, ist, wie in beinahe sämtlichen Szenen von Luhrmanns Film, schwach und fast ausnahmslos reaktiv. Überfordert davon, dass Gatsby sie in diese Situation hineingezwungen hat, lässt Daisy sich zum Ende hin derart von Tom dominieren, dass klar wird, dass sie ihren Mann niemals verlassen wird. Räumlich gesehen befindet sie sich meist in der Mitte zwischen den beiden Männern, deren Verhalten in Bezug auf Daisy unterschiedlicher kaum sein könnte: Während Gatsby aktiv ihre Nähe sucht, sich neben sie setzt oder ihre Hand ergreift, bleibt Tom auf Abstand. Er versucht, seine Frau durch Gestik und aggressive Körpersprache zu dominieren beziehungsweise verbal einzuschüchtern. Die zu Daisys emotionaler Unterstützung herbeizitierten Nick und Jordan sind die gesamte Zeit über kaum mehr als Staffage. Zwar tut Nick in einem Off-Kommentar seine Sympathien für Gatsby kund, doch in der Diegesis (also der gezeigten Filmwelt) lässt er die Dinge einfach so geschehen.
Die visuelle Struktur der Szene
Die Szene im Hotelzimmer ist aus alternierenden Einstellungen zusammengesetzt: Sie besteht aus mehrere Totalen, in denen die Figuren – manchmal alle fünf, zumindest jedoch Gatsby, Daisy und Tom – gemeinsam zu sehen sind und die es dem Filmpublikum erlauben, sich in der Plaza-Suite zu orientieren, nsowie aus halbnahen und nahen Einstellungen. Bei den nahen Einstellungsgrößen handelt es sich überwiegend um "close shots", also Einstellungen vom Kopf abwärts bis zum Brustbereich, und um Großaufnahmen, die die Figuren isolieren. Deren Anordnung dient vor allem dazu, die Dynamik im Duell zwischen Buchanan und Gatsby um Daisys Gunst zu verdeutlichen. Um die emotionale Anspannung zu unterstreichen, fährt die Kamera mitunter an die Gesichter von Tom und Gatsby heran. Gatsbys Handgreiflichkeit gegenüber Tom, die den entscheidenden Wendepunkt der Szene markiert, ist wiederum sehr hektisch in Szene gesetzt – sowohl, was die unruhige Kameraführung als auch, was die hohe Schnittfrequenz anbelangt. Dies erzeugt ein Gefühl von unmittelbarer Nähe und intensiviert so das emotionale Eingebundensein der Zuschauenden.
Der Ablauf
In der ersten Einstellung dieser Sequenz ist die Großaufnahme einer Hand zu sehen, die mit einem Eispickel in einen Kübel voller Eis sticht (unterlegt von dem Geräusch von Eis, das zerhackt wird), gefolgt von einem Close-Up, das Tom Buchanans Kopf von hinten zeigt. Diese Dramatisierung auf der visuellen und auf der Tonebene vermittelt unmissverständlich, dass hier gleich etwas Dramatisches passieren wird. Während Buchanan auch sogleich zum Angriff übergeht, indem er zunächst Gatsbys Standardansprache "alter Knabe" in den Dreck zieht, um im Anschluss Zweifel daran zu erheben, dass es sich bei diesem tatsächlich um einen "Oxford-Mann" handelt, dreht er sich langsam um, bis er Gatsby von Angesicht zu Angesicht gegenübersteht. Nun erhebt sich Gatsby, die Herausforderung annehmend. Allerdings geht er sofort ans Fenster und überlässt Buchanan somit den Raum. Als Gatsby, von Buchanan in die Enge getrieben, zu seinem vermeintlichen Knock-Out-Schlag – "Ihre Frau liebt sie nicht!" – ausholt, hat Buchanan ihm zuvor wieder den Rücken zugekehrt. Die Kamera bewegt sich nun von hinten auf Tom zu, um nach einem kurzen Gegenschnitt auf Daisys ängstliches Gesicht und Gatsbys Hand, die jene von Daisy ergreift, weiter an Buchanan, und jetzt auch an Gatsby, heranzufahren. Die beiden Männer werden im Wechselschnitt gezeigt. Man sieht, wie Buchanan sich, wie schon zu Beginn der Szene, Gatsby zuwendet. Während Gatsby im weiteren Verlauf der Szene emotionalisierend agiert, indem er Tom mit der Geschichte von Daisys und seiner Liebe konfrontiert, reißt Buchanan das Steuer, seinem Charakter entsprechend, mit roher Gewalt herum: Als Daisy sich vom Sofa erhebt – endlich widersetzt sie sich ihrem Mann! –, herrscht er sie an, sie solle sich sofort wieder setzen. Im Folgenden wird es Tom gelingen, Gatsbys Ausführungen so sehr zu dekonstruieren, dass Gatsby schließlich die Beherrschung verliert und handgreiflich wird. So heftig, dass man für einen Moment befürchten muss, er könne Buchanan körperliche Gewalt antun, ja: ihn töten.
Die Klimax
Die Klimax der Szene im Hotel, Gatsbys Kontrollverlust, hat Baz Luhrmann ganz anders inszeniert, als Jack Clayton in seiner Verfilmung von 1974. Während es Gatsby bei Clayton gelingt, die Contenance zu wahren und Daisy – ein wenig unmotiviert – die Flucht ergreift, ist es in Luhrmanns Film ganz klar Gatsby, dessen Wutausbruch den emotionalen Umschwung in Daisy bewirkt. Unterstrichen noch von Nick Carraways Off-Kommentar, in diesem Moment habe Gatsby ausgesehen, als habe er schon einmal einen Mann getötet, wird offenbar, dass Gatsby hier eine Seite seines Charakters zeigt, die er zuvor sorgsam verborgen hat. Plötzlich erscheint alles an ihm – sein Reichtum, seine Vergangenheit, selbst seine Motive Daisy gegenüber – irgendwie liederlich. Es ist Buchanan gelungen, seinen Widersacher zu demontieren, indem er die Anwesenden, auch Carraway, für einen Moment dazu bringt, Gatsbys Integrität in Zweifel zu ziehen. Daisy stürzt hinaus, Gatsby folgt ihr. Doch nur, weil Buchanan es ihm gestattet. Er nimmt Gatsby als Rivalen schlichtweg nicht mehr ernst.
Autor/in: Andreas Resch, Filmjournalist und Drehbuchautor, 11.06.2013
Der Text ist lizenziert nach der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 3.0 Germany License.