Hintergrund
Die Filmsprache von Baz Luhrmann
Mit gerade mal fünf Filmen in zwanzig Jahren gehört der australische Regisseur Baz Luhrmann zu den herausragenden Stilisten im US-amerikanischen Unterhaltungskino. Luhrmann hat sich mit der Modernisierung von historischen Stoffen für ein junges, Popkultur-affines Publikum einen Namen gemacht.
William Shakespeares Romeo + Julia (William Shakespeare's Romeo + Juliet, USA 1996), seine Verfilmung des Shakespeare-Dramas mit Leonardo DiCaprio und Claire Danes als tragischem Liebespaar, hat maßgeblich zur neuen Popularität der Schul-Pflichtlektüre beigetragen und eine kleine Welle von modernisierten Shakespeare-Adaptionen wie
10 Dinge, die ich an Dir hasse (10 Things I Hate About You, Gil Junger, USA 1999),
Hamlet (Michael Almereyda, USA 1999) und
O (Tim Blake Nelson, USA 2001) ausgelöst.
Klassiker im neuen Gewand
William Shakespeares Romeo + Julia erwies sich formal als enorm einflussreich. Luhrmann übernahm Shakespeares' Originaltext und verlegte die Handlung in eine
knallbunte und gewalttätige Großstadt der Gegenwart: Aus Verona machte er, in Anlehnung an den berühmten kalifornischen Strand Venice Beach, Verona Beach. Die Jugendlichen tragen im Film glitzernde Waffen, hören HipHop und Alternative Rock und fahren aufgemotzte Autos. Kritiker/innen nannten diese Ästhetik damals etwas despektierlich "Shakespeare für die MTV-Generation" und hielten Luhrmann indirekt vor, einen Klassiker der Weltliteratur mit oberflächlichen Schauwerten seiner tragischen Dimension beraubt zu haben – ein Vorwurf, dem der Regisseur mit seinem aktuellen Film
Der große Gatsby (The Great Gatsby, Australien, USA 2013) wieder ausgesetzt ist. Luhrmann selbst hat dagegen nie einen Hehl daraus gemacht, welche Art von Kino ihm vorschwebt: Er möchte ein größtmögliches Publikum erreichen und es zu Tränen rühren. "Geschmack", hat er der Kritik einmal entgegnet, "ist der Todfeind der Kunst."
Luhrmanns Kino des roten Vorhangs
Der große Gatsby ist – nach dem historischen Melodram
Australia (Australien 2008) – die konsequente stilistische Fortführung der Idee des
Kinos des roten Vorhangs, der sich Luhrmann mit seinen ersten drei Filmen
Strictly Ballroom (Australien 1992),
William Shakespeares Romeo + Julia und
Moulin Rouge! (USA, Australien 2001) verschrieben hatte. Das
Kino des roten Vorhangs folgt gestalterischen Regeln, die Luhrmann einmal scherzhaft als Manifest bezeichnete. Dazu gehört, dass jeder Film auf einem eigenen erzählerischen Genre oder Motiv basiert, das die Dramaturgie der Handlung lenkt: Tanz in
Strictly Ballroom, Dichtung/Sprache in
William Shakespeares Romeo + Julia, Gesang in
Moulin Rouge!. Inszenatorische Effekte wie
Schnitt, Tempo und absurder Humor sollen den Handlungsraum überhöhen und die Künstlichkeit der Inszenierung betonen. Die wichtigste Regel besagt, dass die Geschichte einfach und durchschaubar sein muss, damit das Publikum schon nach den ersten zehn Minuten ihren Ausgang vorhersehen kann. Dies trifft insofern auch auf die Literaturverfilmung
Der große Gatsby zu, dessen Handlung in den USA jedem Schulkind bekannt ist. Figurenpsychologie spielt in Luhrmanns
Kino des roten Vorhangs keine Rolle. Seine Filme behandeln Mythen, die als Urtexte in der westlichen Kultur angelegt sind: die griechische Tragödie
Orpheus und Eurydike etwa, die
Moulin Rouge! als Vorlage diente, oder die archetypische Figur des Gatsby aus F. Scott Fitzgeralds Roman, der in der Weltliteratur das Scheitern des Amerikanischen Traums personifiziert.
Sampling als Prinzip
In
Der große Gatsby kommen zwei wichtige Einflüsse in Baz Luhrmanns Arbeit zusammen: das Theater, das die Grundlage für alle seine Filme darstellt, und die Sampling-Kultur des HipHop, die Luhrmann in seinen Pastiche-artigen Exkursen durch die Kino-, Literatur-, Pop- und Modegeschichte verinnerlicht hat. Luhrmanns Arbeitsweise ist vergleichbar mit der Praxis des DJs, der sich historischer Einflüsse und offensichtlicher Zitate bedient, um zu einer eigenständigen künstlerischen Sprache zu finden. Für
Der große Gatsby kollaborierte Luhrmann mit dem HipHop-Produzenten Jay-Z, um einen Brückenschlag zwischen dem
Jazz Age und der zeichenhaften, Nostalgie-gesättigten Popmusik der Gegenwart zu vollziehen. Während der Crossover musikalischer Epochen in
Moulin Rouge! noch für Verfremdungseffekte sorgte, wenn das Tanzensemble des Varietés den Cancan zum Disco-Klassiker
Lady Marmalade oder Nirvanas
Smells like Teen-Spirit aufführte, verschmelzen in Songs wie
A Little Party Never Killed Nobody von Fergie oder Lana del Reys
Young and Beautiful der bläserlastige Big Band-Jazz der 1920er-Jahre mit den Produktionstechniken moderner Popmusik auf organische Weise. Ähnlich verbinden etwa
Kostüme aus dem Haus Prada den damals angesagten Flapper-Look der Frauen mit modernen Schnitten und Farben.
Historisierung und Interpretation
Auch in diesem Punkt ist Luhrmanns Interpretation des Jazz Age inhaltlich fundiert. Da der für die damaligen Verhältnisse frivole Jazz in Fitzgeralds Roman einen gesellschaftlichen Umbruch ankündigt, ist es für eine Neuverfilmung nur folgerichtig, musikalische Stile auf der Höhe der Zeit einzusetzen. Dieses Beispiel zeigt, wie geschickt Luhrmann in seinen Filmen Historisierung und Interpretation verbindet. Er entführt sein Publikum in eine imaginäre Vergangenheit und hebt mit der Einführung populärer erzählerischer Elemente gleichzeitig die zeitliche Distanz auf. Die Künstlichkeit macht den Zuschauern/innen jederzeit bewusst, dass sie einer Inszenierung folgen.
Von Brecht zu Luhrmann
Mit diesem Ansatz greift Luhrmann durchaus Grundzüge von Bertolt Brechts Konzept des epischen Theaters auf. Brechts in den 1920ern entwickelte Theaterform brach mit der Trennung von Bühne und Zuschauerraum und öffnete das Theater für gesellschaftliche Themen. Ein Stilmittel war die direkte Ansprache an das Publikum, die Durchbrechung der "vierten Wand". Eine andere war die starke Formalisierung des Bühnenbildes, das nicht mehr den Konventionen des Realismus gehorchte. Luhrmann versucht mit seinen Filmen etwas Ähnliches, wenngleich es ihm dabei nicht um gesellschaftskritische Erkenntnisse geht: Er will dem Publikum das Konstrukt einer aufwändigen filmischen Illusion vor Augen führen. Ausgestellte Künstlichkeit, behauptet Luhrmann, erzeuge einen viel unmittelbareren emotionalen Zugang zu einer tragischen Geschichte als Realismus. Diese Entwicklung seit
Moulin Rouge!, in dem er erstmals
digitale Effekte zur Überhöhung der filmischen Wirklichkeit einsetzte, hat mit
Der große Gatsby einen vorläufigen Höhepunkt erreicht.
Der große Gatsby ist ein einziger Knalleffekt: eine wahnwitzige Nummernrevue aus Tanzeinlagen, 3D-Effekten, Liebesliedern, opulenten Partys und epischen
Kamerafahrten. Dass Luhrmann mit seiner Interpretation des Gatsby-Mythos' den satirischen Tonfall von Fitzgeralds Gesellschaftsroman verfehlt, tut nichts zur Sache. Er arbeitet nach seiner eigenen Logik. Für Luhrmann ist die Figur des Jay Gatsby ein Sinnbild der Dekadenz und des Exzesses. Und damit der perfekte Protagonist für seine persönliche Vorstellung von Kino.
Autor/in: Andreas Busche, Filmpublizist und Filmrestaurator, 11.06.2013
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