Am Anfang der Weltkarriere von Leonard Bernstein steht ein Telefonanruf: 1943 soll der junge Dirigent und Komponist als spontane Vertretung die New Yorker Philharmoniker in der berühmten Carnegie Hall leiten. Sein umjubelter Auftritt macht den jungen Mann zum neuen Liebling der Musikszene. Bald darauf lernt Bernstein die chilenische Broadway-Darstellerin Felicia Montealegre kennen und lieben. Auf die Hochzeit folgen die Geburten von drei Kindern und viele eheliche Auseinandersetzungen. Der bisexuelle Leonard hat Affären, vor allem mit Männern, die dem damaligen Zeitgeist zuwiderlaufen. Auch wenn Felicia um die Romanzen weiß und diese mehr oder weniger akzeptiert, stößt sie das oft ignorante Verhalten ihres prominenten Manns immer wieder vor den Kopf. Parallel dazu erarbeitet sich Bernstein einen Ruf als genialer Musiker, der sein Schaffen nicht auf klassische Musik beschränkt, sondern beispielsweise auch den
Score zum ambitionierten Drama
Die Faust im Nacken (Elia Kazan, USA 1954) oder das Musiktheaterstück
Mass schreibt. Als Felicia eine Krebsdiagnose erhält, steht Leonard ihr zur Seite – das Paar rückt erneut zusammen.
Schon mit seinem
Regiedebüt
A Star is Born (USA 2018) hat Hauptdarsteller Bradley Cooper einen musikalischen Film inszeniert, nun folgt
Maestro über Leonard Bernstein (1918-1990). Wie zuvor steht eine komplexe Liebesbeziehung im Zentrum. Gleichwohl wird Bernsteins Leidenschaft für Musik spürbar und zeigen einige
Szenen ihn bei der künstlerischen Arbeit und später auch bei der Nachwuchsförderung. Das
Skript konzentriert sich auf prägende Stationen aus Bernsteins Leben, blendet aber zentrale Erfolge wie das Musical
West Side Story aus; auch das links-liberale politische Engagement des Ehepaars bleibt unerwähnt. Stattdessen zeigt der Film viele intime Wortwechsel der Liebenden, die so zu gleichwertigen Hauptfiguren werden. Das Leitthema ist das Porträt eines Lebenswegs, der zwischen Außen- und Selbstwahrnehmung zerrieben ist: "Ich bin grundlos traurig", sagt Bernstein einmal im Film. Inszenatorisch liefert Cooper ein
opulent ausgestattetes Biopic, das mit einer
Musical-Einlage,
dynamischer Kameraführung und wiederholten Formatwechseln, die der jeweiligen Handlungszeit entsprechen, eigene Akzente setzt:
Maestro beginnt mit
Schwarz-Weiß-Bildern in einem engen Seitenformat und endet mit Farbaufnahmen im
Breitbildformat.
"Noch Fragen?" lautet die abschließende Dialogzeile aus
Maestro. Wer nicht bereits mit Bernsteins Laufbahn vertraut ist, könnte durchaus noch welche haben, denn die Auslassungen stellen sein vielfältiges Oeuvre nur punktuell dar. Im Musikunterricht kann daher eine Einführung in Bernsteins Werk erfolgen, das unter anderem Symphonien, Ballette und Musikbücher umfasst. Einen inhaltlichen Anknüpfungspunkt bietet der kreative Zwiespalt, in dem sich Bernstein befindet: Als Dirigent steht er vor großem Publikum und kommuniziert mit seinem Orchester. Als Komponist sucht er die Isolation, um arbeiten zu können. Daneben bietet auch die Kluft zwischen der öffentlichen Person Bernstein und seinem Privatleben Gesprächsstoff. Dabei sind die gesellschaftlichen Moralvorstellungen vergangener Dekaden relevant, namentlich die Tabuisierung nicht-heteronormativer Lebensentwürfe und die nachrangige Rolle der Frau. Was hat sich diesbezüglich bis heute verändert, was noch nicht? Im Vergleich mit Biopics wie
Elvis (Baz Luhrmann, USA/AUS 2022) lassen sich die filmischen Besonderheiten von
Maestro herausarbeiten. So muss das Publikum die Einordnung in den Zeitstrahl der Biografie selbst vornehmen. Indikatoren dafür sind die
Maske, die Formatwechsel und die Musik, wenn in den 1980ern etwa ein Hit von Depeche Mode zu hören ist.
Autor/in: Christian Horn, 18.12.2023
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