Hinweis für Lehrende: Alle fünf Episoden der Serie Chernobyl haben eine Altersfreigabe ab 12 Jahren von der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK) erhalten. Auf der im Handel erhältlichen DVD/Blu-Ray ist allerdings ein FSK-16-Logo zu sehen; dieses bezieht sich nur auf einen in den DVD-Extras enthaltenen Trailer zur Bewerbung einer anderen Serie. kinofenster.de empfiehlt Chernobyl ab 14 Jahren, Lehrende sollten die Serie aber am besten vor dem Einsatz im Unterricht sichten.
Historienfilme über die großen Ereignisse der Geschichte erreichen ihren Höhepunkt oft dann, wenn die Protagonisten mit großen Worten den Mächtigen entgegentreten. Für diese Form des Protests gibt es im Englischen einen prägnanten Ausdruck:
speaking truth to power.
Chernobyl hat eine Menge solcher Momente, nicht zuletzt ein etwas bedeutungsschweres Plädoyer vor Gericht. Aber das Ausmaß der Nuklearkatastrophe wird in der Mini-Serie am deutlichsten, wenn es die Mächtigen sind, die die Wahrheit sagen müssen:
power speaking truth.
In der zweiten Episode etwa suchen Waleri Legassow und Boris Schtscherbina, die beiden Köpfe der Regierungskommission zum Super-GAU von Tschernobyl, unter den Werkarbeitern Freiwillige für eine Mission. Drei Männer mit Ortskenntnis sollen durch den gefluteten Keller des verseuchten Kraftwerks tauchen, um eine weitere Explosion mit noch fataleren Folgen zu verhindern. Legassow spielt die Gefahr herunter, verspricht Prämien und Beförderungen, doch die Arbeiter sind misstrauisch. Da bricht Schtscherbina mit der offiziellen Version und sagt, wie es wirklich ist: Drei Leute müssten sich schlichtweg opfern. "Wenn ihr es nicht tut, werden Millionen sterben."
Neue Perspektiven auf eine historische Katastrophe
Der Wissenschaftler Legassow (Jared Harris) und der Politiker Schtscherbina (Stellan Skarsgård) sind in
Chernobyl tragische Helden. Beauftragt mit dem Krisenmanagement, bekämpfen sie die drohende Kontamination großer Teile von Mittel- und Osteuropa. Die sowjetische Führung untersagt ihnen dabei mehrfach dringende Schutzmaßnahmen; dem Politbüro ist mehr am Schein der intakten Supermacht gelegen als am Wohl der Bürger/-innen. Lügen und Vertuschungen erscheinen in der Serie als systemimmanentes Problem.
Chernobyl, Trailer (DVD und Blu-ray erschienen bei Polyband Medien GmbH)
Um die Unfallfolgen einzudämmen, müssen Legassow und Schtscherbina folgenschwere Entscheidungen fällen: Tausende Liquidatoren, Ersthelfer/-innen am Unfallort, setzen sie der potenziell tödlichen Strahlung aus. Zugleich wird auch ihr eigener Einsatz vor Ort aufgrund der gesundheitlichen Folgen einen vorzeitigen Tod bedeuten. Im fernen Moskau laufen derweil zwei weitere Handlungsstränge zusammen: Die weißrussische Physikerin Ulana Khomyuk (Emily Watson) befragt dort die überlebenden Mitarbeiter des Kraftwerks zur Ursache der Explosion. Im gleichen Krankenhaus harrt Ljudmilla Ignatenko (Jessie Buckley), Ehefrau eines strahlenkranken Feuerwehrmanns, aus Liebe – und trotz Schwangerschaft – wochenlang an dessen Sterbebett aus.
Tschernobyl und die Folgen
Der Reaktorunfall von Tschernobyl, einem Kraftwerk nahe der ukrainischen Stadt Prypjat an der Grenze zu Weißrussland am 26. April 1986 gilt als größte Katastrophe bei der zivilen Nutzung von Kernenergie. Bei einem Sicherheitstest kam es zur Explosion und zum Brand des Kernreaktors, in deren Folge große Mengen radioaktive Stoffe in die Erdatmosphäre freigesetzt wurden. Noch tausende Kilometer entfernt wurden daraufhin erhöhte Messwerte für Radioaktivität festgestellt.
Erst Tage später wurden 350.000 Menschen aus der Gegend evakuiert, bis heute gibt es eine Sperrzone mit einem Radius von 37 Kilometern. 31 Menschen starben während oder kurz nach dem Unglück, doch über die Langzeitfolgen, vor allem durch die stark erhöhte Krebsrate in den angrenzenden Regionen, gibt es keine Gewissheit. Eine 2011 veröffentlichte Studie der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges (IPPNW) geht von 112.000 bis 125.000 Todesfällen aus.
Erinnerungskonflikte in Ost und West
"In einer Nacht gelangten wir an einen neuen Ort der Geschichte", schreibt die weißrussische Literaturnobelpreisträgerin Swetlana Alexijewitsch in ihrem Buch "Tschernobyl. Eine Chronik der Zukunft". Sie sammelt darin Stimmen und Statistiken aus den betroffenen Regionen. Unabhängige Informationen über die Folgen gab es in den postsowjetischen Staaten nur bedingt, doch Alexijewitsch setzt ohnehin mehr auf persönliche Erfahrungsberichte. Für Tschernobyl, so die Autorin, fanden die Menschen vor Ort kaum eine Sprache, weil es eine vergleichbare Katastrophe nie gegeben hatte – und auch weil es keine offizielle, glorifizierte Version gab, wie über die Kriege der Vergangenheit.
Die "Chronik der Zukunft" ist für Craig Mazin, den
Drehbuchautoren und Schöpfer von
Chernobyl, eine wesentliche Quelle. Auch die Serie zeichnet Tschernobyl als Vorahnung kommender Katastrophen, bei denen sich Umweltzerstörung, menschliches Versagen und Machtmissbrauch wiederholen könnten. Doch auch konkrete Schicksale, wie das der Ljudmilla Ignatenko,
entlehnt er dem Buch von Alexijewitsch. Im Westen, so Mazin in seinem eigenen Podcast zur Serie, werde der verhältnismäßig "glimpfliche" Ausgang des Reaktorunfalls mehr erinnert als die Opfer, die vornehmlich einfache Bürger/-innen der Sowjetunion bringen mussten. Die differenzierte Darstellung sowjetischer Machtverhältnisse hat der Serie auch Fans in Russland und der Ukraine beschert – während der staatsnahe russische TV-Sender NTW bereits eine Gegenerzählung im Serienformat ankündigt.
Zwischen Genre-Erzählung und Realismus
Chernobyl setzt in Ausstattung,
Requisite,
Kostüm- und
Maskenbild auf detailgetreuen Realismus. Hollywood-Klischees aus dem Kalten Krieg werden weitgehend vermieden, statt grauer Tristesse erscheint die sozialistische Planstadt Prypjat als lebendiger Ort für junge Familien. Nur manche dramatische Zuspitzung erinnert an alte Vorurteile, etwa wenn Schtscherbina Untergebenen droht, sie bei Ungehorsam gleich erschießen zu lassen. Andere Fiktionalisierungen stehen hingegen im Dienst einer allgemeineren Wahrheit, etwa die Verdichtung mehrerer männlicher Wissenschaftler auf die fiktive Frauenfigur Ulana Khomyuk – sie steht für den Beitrag der Frauen in der sowjetischen Wissenschaft.
Chernobyl gelingt die seltene Balance zwischen atmosphärisch dichter
Genre-Erzählung und historischer Genauigkeit. Gerade durch ihre emotionale Wucht weckt die Serie Interesse für ein spezifisches, aber vielleicht auch exemplarisches Ereignis der jüngeren Geschichte.
"Was waren das also für Menschen – Helden oder Selbstmörder?", fragt Alexijewitsch. "Merkwürdigerweise gerät mit der Zeit in Vergessenheit, daß sie ihr Land gerettet haben. Und Europa." Im
Abspann würdigt
Chernobyl die etwa 800.000 Menschen, die unter dem Einsatz ihrer Gesundheit noch schlimmere Folgen verhinderten. Darunter die Namen der Taucher aus dem Kraftwerk: Alexej Ananenko, Valerij Bezpalow und Boris Baranow. Vom Tod durch die Strahlenkrankheit oder den Krebs sind die drei – im Gegensatz zu tausenden anderen Liquidatoren – verschont geblieben.
Autor/in: Jan-Philipp Kohlmann, Filmjournalist und Redakteur von kinofenster.de, 23.09.2019
Mehr zum Thema auf kinofenster.de:
Weitere Texte finden Sie mit unserer Suchfunktion.