Hintergrund
"Ich beschäftige mich in meiner Freizeit nur mit Einem – Filme, Filme, Filme!"
Audio-Version des Textes, Sprecherin: Barbara Becker
"Heute sitzt ihr im Veranstaltungsraum des Museums für Film und Fernsehen. Er ist weiß gestrichen und an der Rückseite eurer Sitzplätze lassen große Fenster viel Tageslicht in den Raum. Für die Hörfilmvorführung haben wir aber die grauen Vorhänge schon zugezogen. An der Wand neben dem Eingang, durch den ihr gerade gekommen seid, befinden sich zwei Glasvitrinen mit verschiedenen Ausstellungsstücken des Museums ...". Ausführlich beschreibt Jurek Sehrt, der Museumspädagoge des Museums für Film und Fernsehen, den Veranstaltungsraum, in dem die blinden und sehbehinderten Schüler/innen der Johann-August-Zeune-Schule gemeinsam mit ihren sehenden Partnerschülern/innen von der W-I-R Grundschule aus Treptow in den folgenden anderthalb Stunden die Hörfilmfassung des Animationsfilms
Chicken Run – Hennen rennen (Peter Lord, Nick Park, GB, USA 2000) sehen werden. Auch sein eigenes und das Aussehen seines Kollegen veranschaulicht der Initiator der barrierefreien Filmbildungsangebote der Deutschen Kinemathek und bekommt dabei tatkräftige Unterstützung aus dem Publikum: Tief und brummend sei die Stimme seines Kollegen Stefan, meint die blinde Alina und der quirlige Lukas findet, dass dessen Teddy-Haare und der silberne Armreif nicht unerwähnt bleiben sollten.
Alles, was man sieht, schränkt Jurek Sehrt ein, könne aber leider nicht erwähnt werden, denn sonst müsse der Tag ja endlos sein. Wer Hörfilmfassungen herstellt, sieht sich also mit der Herausforderung konfrontiert, aus der Fülle der visuellen Eindrücke eines Films diejenigen auszuwählen, die für das Verständnis des Films elementar sind.
Hörfilmfassungen übersetzen Bilder in Sprache
Teilnehmer/innen der Hörfilmvorführung von "Chicken Run - Hennen rennen" (© bpb / Oleg Stepanov)
Was unbedingt erwähnt werden sollte, damit sich blinde und sehbehinderte Menschen Filme erschließen können und auch die Lust an deren Wahrnehmung nicht auf der Strecke bleibt, wissen Roswitha Röding und Alexander Fichert von der Vereinigung Deutscher Filmbeschreiber Hörfilm e.V. Die beiden arbeiten schon seit Jahren im Team, um, meistens im Auftrag von Fernsehsendern und Produktionsfirmen, Hörfilmfassungen von Spielfilmen, Serien und Dokumentarfilmen zu erstellen. Der Schüler/innengruppe erklären sie vor der Hörfilmvorführung, was das Besondere an einer Hörfilmfassung ist, und wie sie entsteht.
So erläutert Roswitha Röding: "Für Hörfilmfassungen werden die visuellen Elemente eines Films, die für das Verständnis seiner Handlung und sein ästhetisches Erleben wichtig sind, akustisch beschrieben". Um eine solche sogenannte Audiodeskription zu erstellen, sieht sich ein Team aus sehbehinderten und sehenden Filmbeschreibern/innen den Film gemeinsam an, wobei die sehenden den sehbehinderten Filmbeschreibern/innen erklären, was im Film vor sich geht. Daraufhin geben die Sehbehinderten eine Rückmeldung darüber, wann sie dem Film nicht mehr folgen oder die Stimmen der handelnden Personen nicht mehr zuordnen konnten, und wie sie die Geräusche der Tonspur gedeutet haben. Darüber hinaus untersuchen die sehenden Mitglieder des Filmbeschreibungsteams die visuelle Ebene des Films anhand von formalen, technischen und inhaltlichen Kriterien, halten nach speziellen filmischen Mitteln Ausschau wie dem Einsatz von Voraus- und Rückblenden oder Montagen, um diese in die Audiodeskription aufzunehmen.
Die Knetfiguren ziehen alle in ihren Bann
Dass
Chicken Run – Hennen rennen in einer Fassung mit Audiodeskription gezeigt wird, ist allerdings nicht das einzig Besondere an dem Film. Jurek Sehrt erklärt den Schülern/innen, wie die "
Stop-Motion"-Technik funktioniert, die im Film zum Einsatz kommt: Wie viele einzeln aufgenommene Bilder aneinander geschnitten werden müssen, bis die Hennen tatsächlich rennen, beeindruckt und begeistert die Schüler/innen. Nach diesem kurzen Einblick in das Genre des Animationsfilms wird das Licht gedimmt. Der Veranstaltungsraum kann dabei flexibel von den Schülern/innen der Johann-August-Zeune-Schule genutzt werden. Einige von ihnen sind schwerst mehrfach körperlich und kognitiv behindert, und wenn das rasante Geschehen auf der Leinwand und der Sound aus den Lautsprechern ihre Sinne überfordert, können sie sich mit ihrem Rollstuhl in eine ruhigere Ecke zurückziehen und trotzdem weiter an der Vorführung teilnehmen. Andere Schüler/innen, die noch einen Rest Sehvermögen besitzen, können im Filmverlauf ihren Stuhl näher an die Leinwand rücken und schaffen so selbst die für sie optimale Entfernung, um dem Hörfilm zu folgen.
Würden sich die Schüler/innen
Chicken Run – Hennen rennen ohne Audiodeskription anschauen, müssten die sehenden den blinden und sehbehinderten Kindern unentwegt erklären, was sich auf der Leinwand abspielt. Durch die Hörfilmfassung ist das nicht nötig, so dass sich alle Schüler/innen voll und ganz auf den Film und seine Handlung konzentrieren können. Auf der Leinwand ist das Hühnerabenteuer mittlerweile im vollen Gange.
Szene aus der Hörfilmfassung von "Chicken Run – Hennen rennen ", © Tobis/ Bayerischer Rundfunk
Ob blind, sehend oder sehbehindert – alle Schüler/innen teilen den Spaß an den originellen Charakteren des Films, seiner Situationskomik und dem schnellen Tempo, das die Geschichte vorantreibt. Dabei stört es die sehenden Schüler/innen nicht im Geringsten, dass sie einen Film mit Audiodeskription sehen – diese wird zurückhaltend eingesetzt und drängt sich nie in den Vordergrund. Eher ergänzt sie den Film um eine weitere Komponente, die sich harmonisch einfügt. Während der gesamten Vorführung wechseln sich jedenfalls gespanntes Schweigen und fröhliches Lachen ab und besonders gegen Ende des Films fiebern alle Schüler/innen mit den Hennen mit, ob sie es wohl schaffen, das selbst gebaute Flugmobil in die Luft zu bekommen und so den umzäunten Hühnerhof hinter sich zu lassen.
Filme mit Audiodeskription ermöglichen Inklusion
Als es im Veranstaltungsraum schließlich wieder hell wird, versammelt Jurek Sehrt die Schülerinnen und Schüler zu einem Nachgespräch über den Film. Aufgeregt entspinnt sich in der Gruppe nun eine Diskussion darüber, wie Mrs. Tweedy – eine der Hauptfiguren aus
Chicken Run – Hennen rennen – denn nun einzuschätzen sei: Dass sie unheimlich sei, allein schon wegen ihrer knarrenden Stimme, das finden sowohl die sehbehinderten als auch die sehenden Schüler/innen einleuchtend, und letztere ergänzen, inwiefern ihr Gesichtsausdruck schon dafür sorgt, dass man beim Zuschauen vor ihr weiche Knie bekommt. Das Höllenspektakel der explodierenden Hühnerpastetenmaschine und die spektakuläre Flucht von Ginger und Rocky sind allen im Gedächtnis geblieben und auch der wilde Tanz im Hühnerstall gehört zu den Lieblingsszenen der Schüler/innen. Die Hörfilmvorführung von
Chicken Run – Hennen rennen fanden beide Klassen cool, darin sind sich alle einig. Und die sehbehinderte Lina bekräftigt: "Ich beschäftige mich in meiner Freizeit nur mit Einem – Filme, Filme, Filme!" Fest steht jedenfalls: Wenn es mehr Kinderfilme in einer Hörfilmfassung gäbe, gingen die Schüler/innen der Johann-August-Zeune-Schule noch wesentlich häufiger ins Kino – "... und zwar gemeinsam mit uns!", bekräftigt Anton von der W-I-R-Schule energisch. "Denn mit meinen Freunden ins Kino gehen macht einfach Spaß, egal welche Filmfassung wir uns dann dort anschauen!"
Autor/in: Clemens Stolzenberg, Volontär am Filmbereich des Fachbereichs Multimedia der Bundeszentrale für politische Bildung, 01.07.2013
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