Hintergrund
Retrospektive und Hommage: Filmklassiker auf der Berlinale
Langsam erzählen sie ihre Geschichten. Ganz klassisch zweidimensional, ohne räumliche Tiefenwirkung gegenwärtiger 3D-Filme, ohne computergenerierte
visuelle Effekte. Und bisweilen auch noch nicht einmal in Farbe. Wenn die Berlinale, eines der weltweit wichtigsten Filmfestivals, im 60. Jahr ihres Bestehens auf die eigene Geschichte zurückblickt, öffnet sie auch den Blick auf Film- und Gesellschaftsgeschichte. Sie zeigt eben solche Filme, die zum damaligen Zeitpunkt wegweisend und aktuell waren und auch heute noch zu einer Auseinandersetzung einladen. Bei weitem nicht alle Filme der diesjährigen Retrospektive und Hommage eignen sich freilich für eine Behandlung im Schulunterricht. Viele Lehrkräfte sind sich zudem unsicher bezüglich einer Verwendung von DVDs im Unterricht, da hier keine veröffentlichte Rechtsprechung existiert - eine Hürde für die Filmbildungsarbeit mit Klassikern. Doch geeignete Filme und interessante Anknüpfungspunkte finden sich dennoch – quer durch die Genres, Jahrzehnte und Produktionsländer.
Musterhafter Thriller: Lohn der Angst
Nichts anderes als menschliches Arbeitsmaterial sind die vier europäischen Tagelöhner, die in dem südamerikanischen Dorf unter der brennenden Sonne herumlungern. Als eine Ölquelle brennt, werden sie von einem US-amerikanischen Unternehmen als Fahrer angeheuert. Zwei Lieferwägen mit Nitroglycerin sollen über hunderte Kilometer zur Unfallstelle transportiert werden, um die Quelle mit einer gezielten Sprengung zu löschen – ein Himmelfahrtskommando. Als
Lohn der Angst (Le salaire de la peur, Frankreich, Italien 1953) im Wettbewerb der Berlinale aufgeführt wurde, war es noch keine international besetzte Jury, die ihn 1953 mit dem Goldenen Bären auszeichnete: Das Publikum stimmte von 1952 bis 1955 über den Preisträgerfilm ab. Für die heutige Bildungsarbeit ist er geradezu ein Paradebeispiel für eine gelungene Spannungsdramaturgie. Henri-Georges Clouzot inszeniert die Reise durch unwegsames Gelände als mitreißenden Thriller, der trotz einer geradlinigen Handlung musterhaft vorführt, wie im Kino Spannung konstruiert werden kann und wie wichtig auch für einen solchen Genre-Film echte Charaktere sind. Mit einem guten Gespür für Atmosphäre führt er die höchst unterschiedlichen Fahrer ein und verweist schon in seiner Bildgestaltung darauf, dass es hier um Leben und Tod geht. Während die Anspannung durch den stetigen Wechsel zwischen ruhigen und hektisch-dynamischen Szenen verstärkt wird, greift die dramatische
Lichtsetzung den Stil des Film Noir auf und trägt zu einem Gefühl der Ausweglosigkeit bei. Doch so kalt und draufgängerisch die vier Fahrer zunächst auch wirken mögen: Der Wert des Lebens (und der Respekt davor) steht immer wieder zur Debatte und macht aus Clouzots Abenteuerfilm auch ein sozialkritisches Drama um Mut, Heldentum und Menschlichkeit.
Auf der Suche: Berlin – Ecke Schönhauser
Jugendliche im Clinch mit der Elterngeneration, die ihre Werte, Interessen und Sorgen nicht verstehen will oder kann – dies ist eine zentrale Konfliktlinie in vielen Jugendfilmen. Auch in der DEFA-Produktion
Berlin – Ecke Schönhauser (Gerhard Klein, DDR 1957) widmet sich der Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase, den die Berlinale in diesem Jahr mit einer Hommage ehrt, dem Alltag einer Jugendclique auf den Straßen der geteilten Stadt. Im (damaligen) Arbeiterbezirk Prenzlauer Berg, im "demokratischen Sektor", trifft man sich unter dem S-Bahn-Bogen und lehnt sich mit kleinen Gesten auf. Etwa mit einem Steinwurf auf eine Straßenlaterne. Die Polizei erwischt die Jugendlichen, nimmt sie mit aufs Revier. Warum nur passen sie sich nicht an? Der Jugendfilm schließt sich nahtlos an westliche Halbstarken-Filme an wie
Die Faust im Nacken (On the Waterfront, Elia Kazan, USA 1954) oder
Die Halbstarken (Georg Tressler, BRD 1956). Er lebt von seiner Authentizität, weil er an realen Schauplätzen und nicht im Studio gedreht wurde. Durch seine differenzierte Darstellung der Problematik spiegelt
Berlin – Ecke Schönhauser das von größerer künstlerischer Freiheit geprägte "Tauwetter" in den Ostblockstaaten nach Stalins Tod und unterscheidet sich so deutlich von späteren linientreuen, weniger kritischen DEFA-Produktionen. Aus heutiger Sicht ist er ein Einblick in eine frühere Jugendkultur, der zugleich von den universellen Problemen des Erwachsenwerdens erzählt, von dem Kampf gegen Autoritäten, der Suche nach dem richtigen Lebensstil und der Sehnsucht nach Selbstverwirklichung. Erschwert wird diese Suche durch die gesellschaftspolitischen Umstände: Der Blick der Heranwachsenden richtet sich auf die Jugendidole des politisch verfemten Westens wie etwa Marlon Brando.
Französische Coolness: Außer Atem
Ganz andere Vorbilder, in filmischer wie ideeller Hinsicht, motivieren Regisseur Jean-Luc Godard vier Jahre später in Frankreich zu seinem Film
Außer Atem (À bout de souffle, Frankreich 1960), einem Klassiker der Nouvelle Vague. Jean-Paul Belmondo hastet als Möchtegern-Verschnitt von Humphrey Bogart durch Paris, an seiner Seite Jean Seberg als burschikose Amerikanerin. Mit zahlreichen Zitaten verneigt sich Jean-Luc Godard vor dem visuellen und narrativen Stil des Film Noir mit all jenen abgebrühten Antihelden/innen, die an der Gesellschaft scheitern. Zugleich verweigert sich sein Film über den Fluchtversuch eines Polizistenmörders einer klassischen Dramaturgie und konventionellen Inszenierung. Die
Montage macht durch harte Schnitte auf sich aufmerksam und stellt den Film als geschaffenes Kunstwerk in den Mittelpunkt. Für Dynamik sorgen
Jump Cuts, die die Raum- und Zeitwahrnehmung unterwandern, und das Publikum ständig zu neuen Orientierungsversuchen zwingen. Und all dies wurde gefilmt mit einer dokumentarisch wirkenden
Handkamera und an Originalschauplätzen. Diese Abkehr vom großen Studiofilm wurde 1960 im Wettbewerb der Berlinale aufgeführt und mit dem Silbernen Bären für die beste Regie ausgezeichnet. Eine Entscheidung, die beim Publikum, aber auch unter Kritikern/innen oft auf Unverständnis stieß. Heute zählen Godards Experimente zum ästhetischen Standardrepertoire im Actionkino, in Video- und Werbeclips. 2003 wurde
Außer Atem auch in den
Filmkanon der Bundeszentrale für politische Bildung aufgenommen. Godard hat die Möglichkeiten des Erzählens im Kino erweitert. Geradezu exemplarisch lässt sich an seinem Debütfilm aufzeigen, mit welchen vielfältigen Stilmitteln, beispielsweise
Montage oder
Kameraführung, Filmgeschichten erzählt werden. Und eine Aufforderung zu Straftaten, zu rücksichtslosem, moralfreiem Verhalten, wie damals befürchtet wurde, ist
Außer Atem nicht. Vielmehr ein selbstironischer und selbstreflexiver Spaß, der seinen Widerhall auch seit Mitte der 1990er-Jahre verstärkt im postmodernen Kino – in Filmen wie
Pulp Fiction (Quentin Tarantino, USA 1994) – gefunden hat.
Antikriegsfilm: Die durch die Hölle gehen
Ironie wird durch puren Zynismus ersetzt in Michael Ciminos starbesetztem Film
Die durch die Hölle gehen (The Deer Hunter, USA 1978), der 1979 im Wettbewerb gezeigt wurde. Der zentrale Moment der Geschichte ist ein Glücksspiel. Doch keines, das mit Karten oder Würfeln gespielt wird, sondern mit Blei. Im vietnamesischen Dschungel sitzen sich gefangene US-amerikanische Soldaten gegenüber und müssen zur Belustigung ihrer Peiniger russisches Roulette spielen: Abwechselnd halten sie sich den Revolver an den Kopf, mit drei Kugeln in der Trommel. Der Wahnsinn liegt über dieser Szene – und er macht deutlich, dass diese Menschen den Kriegsschauplatz nicht unbeschadet wieder verlassen können. Hart und brutal erzählt
Die durch die Hölle gehen von dem Leben vor dem Krieg, im Krieg sowie von der Rückkehr in die Heimat, als nichts mehr ist wie zuvor. Von Anfang an war der Antikriegsfilm bei Kritikern/innen umstritten, weil er die Gegner der USA unmenschlich und sadistisch zeichnet. Umstritten aber war er auch von politischer Seite. Die Aufnahme in den Wettbewerb der Berlinale gegen den Protest der UdSSR führte dazu, dass mehrere sozialistische Staaten "aus Solidarität mit dem heldenhaften vietnamesischen Volk" ihre Filme zurückzogen. Doch tatsächlich gibt es in diesem Film auf keiner Seite Helden. Krieg folgt seinen eigenen Regeln: Dieses Thema hat das Kino bis heute beibehalten, auch wenn sich die Schauplätze verlagert haben. Heute findet der Kampf nicht mehr in Vietnam statt, sondern im Irak, wie etwa zuletzt in Kathryn Bigelows
Tödliches Kommando (The Hurt Locker, USA 2008). Heutige Jugendliche fordert
Die durch die Hölle gehen auf vielfältige Weise zur Auseinandersetzung heraus: mit den historischen Ereignissen, auf die sich der Film bezieht, mit seiner Inszenierung der Gewaltdarstellungen, mit dem Geschichtsbild, das er konstruiert, und den Reaktionen, die er provozierte.
Deutsches Geschichtsbild: Die Ehe der Maria Braun
Um Kriegsfolgen geht es auch in Rainer Werner Fassbinders Drama
Die Ehe der Maria Braun aus dem Jahr 1979, das 2003 ebenfalls in den
Filmkanon der Bundeszentrale für politische Bildung Eingang fand. Fassbinder, der bis zu seinem Tod im Alter von 37 Jahren mehr als 40 Filme gedreht hat und zu den bekanntesten Vertretern/innen des Neuen Deutschen Films zählt, verknüpft darin erneut ein persönliches Schicksal mit einem gesellschaftskritischen Kommentar. Eine Explosion reißt das Hitler-Porträt von der Wand des Standesamts. Inmitten eines Feuergefechts heiratet Maria ihren Hermann. Eine Vermählung, die nur einen halben Tag und eine Nacht währt. Danach muss der Soldat wieder an die Ostfront. Nach dem Krieg kehrt Hermann, längst totgeglaubt, zu seiner sehnsüchtig wartenden Frau zurück. Doch ein Unglück geschieht, er muss ins Gefängnis und wieder wartet Maria. An der Seite eines Industriellen unterstützt sie tatkräftig den Wiederaufbau. Jahre später, als Hermann endlich wieder an ihrer Seite ist, erkennt sie bitter die Verlogenheit ihres Lebens. Eindrucksvoll spielt Hanna Schygulla, die 1979 mit dem Silbernen Bären als beste Darstellerin ausgezeichnet wurde und deren Werk die Berlinale in diesem Jahr mit einer Hommage ehrt, Marias Schicksal von der Trümmerfrau bis in die Jahre des Wirtschaftswunders.
Die Ehe der Maria Braun ist ein Film, der durch seine dichte Inszenierung und herausragende Darstellerin auch Heranwachsende an die jüngere deutsche Geschichte und an das Werk eines prägenden deutschen Regisseurs heranführt. Fassbinders starke Liebende, die für ihre Ziele kämpft, bleibt doch trotz ihrer Tatkraft und ihres Selbstbewusstseins die Marionette mächtiger Männer. Der Film ist ein bitterer Rückblick auf die Adenauer-Zeit, der durch die Schlussmontage, die eine verfremdete Galerie der Bundeskanzler bis ins Jahr 1979 – mit Ausnahme von Willy Brandt – zeigt, auch die Bezüge weit über die Nachkriegsjahre hinaus offen hält. Was macht die Politik mit dem Menschen? Eine zeitlose Frage.
Autor/in: Stefan Stiletto, Medienpädagoge mit Schwerpunkt Filmkompetenz und Filmbildung, 27.01.2010
Mehr zum Thema auf kinofenster.de:
Weitere Texte finden Sie mit unserer Suchfunktion.
Der Text ist lizenziert nach der Creative Commons Attribution-NonCommercial-NoDerivs 2.0 Germany License.