Hintergrund
Die drei Leben von Babelsberg
Vor den Toren Berlins
Die Studios in Potsdam-Babelsberg sind die weltweit ältesten Film-Großateliers. Mehr als 2.000 Kinofilme wurden hier seit dem Ankauf des Geländes im Herbst 1911 produziert. Guido Seeber, der Chefkameramann der Filmproduktionsfirma Bioscop, machte sich damals persönlich auf die Suche nach einem Ort ohne rauchende Fabrikschornsteine, mit viel Sonnenlicht und freier Fläche, draußen vor der Stadt. Er fand ein Grundstück im Südwesten Berlins, mit einem verlassenen Gebäude, in dem zuvor künstliche Blumen hergestellt worden waren. Die nächste Bahnstation hieß Nowawes, die benachbarte Siedlung Neubabelsberg. Die Bodenpreise waren günstig (pro Quadratmeter 1,50 Reichsmark), man erwarb 40.000 Quadratmeter und es wurde ein kleines Glasatelier hinzugebaut.
Am 12. Februar 1912 fand dann der erste Drehtag statt. Der Film unter der Regie von Urban Gad hieß Der Totentanz. Das klang als Titel zwar nicht gerade visionär, aber die Hauptrolle spielte ein damals angesagter Star: die Dänin Asta Nielsen. Das "mimische Drama in drei Akten" handelte von Liebe, Leidenschaften, Intrigen und Katastrophen, also von all dem, was Menschen im Kino sehen möchten. (Die erhaltenen Fragmente des Films wurden mit Hilfe des Münchner Filmmuseums zum 100-jährigen Jubiläum restauriert).
Leben Nr. 1 – als Ufa-Gelände
Zehn Jahre später hatte sich die Welt spürbar verändert. Ein vierjähriger Krieg hinterließ Traumata, Deutschland kämpfte um die Anerkennung seiner Weimarer Republik, die Kultur boomte, und das Geld verlor an Wert. Die Studios vor den Toren Berlins hatten inzwischen den Besitzer gewechselt: Hausherr war nun die 1917 gegründete Universum Film AG (Ufa), der Produktionschef hieß Erich Pommer. In den Hallen von Neubabelsberg arbeiteten die Regisseure Friedrich Wilhelm Murnau, Fritz Lang, Ludwig Berger. Ernst Lubitsch verabschiedete sich gerade nach Hollywood.
Fritz Lang galt nach seinem Drama Der müde Tod (Deutschland 1921) und dem zweiteiligen Dr. Mabuse, der Spieler (Deutschland 1922) als neue Nummer eins und ging im Herbst 1922 mit einem Mythenthema ins Atelier: Die Nibelungen (Deutschland 1924). Er ließ auf dem Gelände einen künstlichen Wald errichten, in dem Siegfried sich verirren konnte. Eine Attraktion des Films war der Lindwurm, gebaut in furchterregender Größe mit allen mechanischen Raffinessen. Es waren ja nicht nur die Künstler/innen, die dem deutschen Film in jenen Jahren zur Weltgeltung verhalfen, sondern auch die Handwerker/innen. Das hat niemand besser und genauer beschrieben als der Filmarchitekt Erich Kettelhut in seiner posthum publizierten Autobiografie Der Schatten des Architekten.
Großproduktionen und Studioerweiterung
Auch Murnaus
Der letzte Mann (Deutschland 1924) mit der Kulisse des Hotels Atlantic, sein Film
Faust – Eine deutsche Volkssage (Deutschland 1926) und natürlich Fritz Langs
Metropolis (Deutschland 1926) waren paradigmatische Studiofilme. Das Gelände der Ufa hatte sich inzwischen auf 300.000 Quadratmeter erweitert, es gab Verwaltungsgebäude, mehrere Ateliers, Werkstätten, Kostümfundus, technische Lager, ein Kopierwerk, einen kleinen Zoo und viel Platz für Bauten zu den Außenaufnahmen. Eine finanzielle Krise wurde mit dem Rettungsschirm der US-amerikanischen Paramount und Metro-Goldwyn-Mayer (MGM) überstanden, aber der konservative Medienunternehmer Alfred Hugenberg holte das Unternehmen schnell in deutsche Obhut zurück. 1926 wurde eine neue Halle gebaut, die durch Querwände beliebig unterteilbar war (sie heißt heute "Metropolis-Halle"), und 1929 – unter dem Druck der kommenden Tonfilmtechnik – aus vier Ateliers das "Tonkreuz" errichtet,
rechtzeitig für die deutschen Prestigeproduktionen
Der blaue Engel (Josef von Sternberg, Deutschland 1930),
Die Drei von der Tankstelle (Wilhelm Thiele, 1930),
Der Kongress tanzt (Eric Charell, 1931),
Ein blonder Traum (Paul Martin, 1932),
F.P.1 antwortet nicht (Karl Hartl, 1932). Das Studio war reich bestückt mit Stars: Henny Porten und Harry Piel, Emil Jannings und Werner Krauss, Brigitte Helm und Marlene Dietrich, Lilian Harvey und Willy Fritsch, Renate Müller, Heinz Rühmann und Hans Albers. Einst wurden sie von der Sonne beleuchtet, inzwischen kam das Licht vorwiegend aus den Scheinwerfern.
Charakteristisch für diese Zeit waren die Sprachversionen. Filme wurden auf demselben Set separat in deutscher, englischer und französischer, gelegentlich auch in italienischer oder spanischer Sprache gedreht, weil das Synchronisieren noch nicht möglich war. Die Regisseure und Darsteller/innen kamen aus den entsprechenden Ländern angereist, auf dem Gelände herrschte internationale Verständigung. So weltoffen war Babelsberg nie zuvor. Der Filmhistoriker Chris Wahl hat dazu ein hervorragend recherchiertes Buch veröffentlicht:
Sprachversionsfilme aus Babelsberg.
Propaganda für das NS-Regime
Dann drängten sich politisch-ideologische Mächte in den Vordergrund, die auch den deutschen Film veränderten. Das vaterländische U-Boot-Epos
Morgenrot (Gustav Ucicky, Deutschland 1933) war so etwas wie der Willkommensgruß für die neuen Machthaber: Adolf Hitler und Joseph Goebbels. Nunmehr produzierte man unter Aufsicht des Propagandaministeriums. Die jüdischen Mitarbeiter/innen mussten das Studio verlassen; ein unwiederbringlicher Verlust. Produktionsschwerpunkte wurden das Lustspiel, die Literaturverfilmung und das Melodram, es begannen die Karrieren der Regisseure Detlef Sierck (später Douglas Sirk) und Veit Harlan. 1938 fusionierten nach einer Gebietsreform die Orte Nowawes und Neubabelsberg zu "Babelsberg", das 1939 zu einem Ortsteil von Potsdam wurde.
30 Jahre Babelsberg 1942, im Jahr von Stalingrad: keine Jubiläumsfeier, aber Drehbeginn für das Melodram
Opfergang (Veit Harlan) mit Kristina Söderbaum, für die Komödie
Ich vertraue Dir meine Frau an (Kurt Hoffmann, Deutschland 1943) mit Heinz Rühmann, das Melodram
Damals (Rolf Hansen, Deutschland 1943) mit Zarah Leander und den Ufa-Jubiläumsfilm
Münchhausen (Josef von Báky, Deutschland 1943) mit Hans Albers. Immerhin durfte Erich Kästner unter dem Pseudonym Berthold Bürger das Drehbuch zum
Münchhausen-Film schreiben, und wer genau hinhört, entdeckt – hinter aufwändigen Bauten, brillanten
Farben und erstaunlichen
Tricks – auch ironische Anspielungen. Gedreht wurde in Babelsberg, bis im April 1945 die Russen vor der Tür standen. Der letzte Film des Dritten Reichs hatte den metaphorischen Titel
Das Leben geht weiter (Wolfgang Liebeneiner, Deutschland 1945). Hans-Christoph Blumenberg hat darüber 1993 ein ganzes Buch mit dem Titel
Das Leben geht weiter - Der letzte Film des Dritten Reichs geschrieben.
Leben Nr. 2 – als DEFA-Gelände
Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg begann im Januar 1948 mit den Dreharbeiten zu dem Zirkusfilm 1-2-3 Corona (Hans Müller, Deutschland 1948). Das Studio wurde sukzessive von der sowjetischen Besatzung an die neu gegründete Deutsche Film AG (DEFA) übergeben. Zum 40-jährigen Bestehen 1952 gab es keinen Staatsakt, weil die Vergangenheit doch zu belastend war. Aber inzwischen arbeiteten Regisseure wie Wolfgang Staudte (Der Untertan, DDR 1951), Slatan Dudow (Frauenschicksale, DDR 1952) und Kurt Maetzig in Babelsberg. Das große Projekt der 1950er-Jahre war dessen Zweiteiler Ernst Thälmann – Sohn seiner Klasse sowie Ernst Thälmann – Führer seiner Klasse (DDR 1954, 1955). Damit kam – mit Günter Simon in der Hauptrolle – ein staatspolitisch positiver Held auf die Leinwand. Fürs Träumen im Kino war er nicht so sehr geeignet. Neue Zeiten, neue Helden.
Babelsberg hinter der Mauer
Als Babelsberg fünfzig wurde, war ein Jahr zuvor die Berliner Mauer errichtet worden. Die Ostberliner Mitarbeiter/innen mussten jetzt einen langen Umweg um die Insel Westberlin machen, um ihren Arbeitsplatz zu erreichen. Das Studio war ausgelastet mit Abenteuerfilmen, Kriminalfilmen, Musikfilmen, Komödien. Aber Frank Beyer drehte 1963 auch das Drama Nackt unter Wölfen (mit Armin Mueller-Stahl und Erwin Geschonneck). Sein Thema: Buchenwald. Ein Kind wird zum Symbol der Solidarität in einem Konzentrationslager. Zu den Verdiensten der DEFA gehörte ihr Umgang mit deutscher Geschichte und deren düsteren Kapiteln. Mit der Gegenwart hatte sie Mitte der 1960er-Jahre ihre größten Probleme: Mehr als zehn Filme wurden verboten, weil sie zu systemkritisch waren, die beiden bekanntesten: Das Kaninchen bin ich (Kurt Maetzig, DDR 1965) und Spur der Steine (Frank Beyer, DDR 1965). Sie kamen erst nach der Wende richtig ins Kino.
DEFA-Legenden und Highlights
1972. In Babelsberg entstanden Indianerfilme, Literaturverfilmungen, Historienfilme. Und – jenseits aller Genres – ein Film, der für das individuelle Glück plädierte:
Die Legende von Paul und Paula (DDR 1973) von Ulrich Plenzdorf und Heiner Carow mit Angelica Domröse und Winfried Glatzeder. Poesie, Realismus, Ironie, träumerische Fantasie und der Ernst des Alltags wirkten selten in einem DEFA-Film aus Babelsberg so ausbalanciert. Auch ein zweiter Frauenfilm wurde schnell zur Legende:
Solo Sunny (DDR 1978) von dem großen Konrad Wolf und seinem Autor Wolfgang Kohlhaase: ein tiefer Blick in die Realität der DDR.
Noch ein Pluspunkt für die DEFA: der Kinderfilm. Die kleinen Zuschauer/innen wurden ernst genommen. Das Studio produzierte Märchenfilme und realistische Filme, die sich sehen lassen konnten. Helmut Dziuba drehte 1982
Sabine Kleist, 7 Jahre: die Abenteuer einer Ausreißerin, ihre Erlebnisse während einer aufregenden Tag- und Nachtreise durch Berlin, Hauptstadt der DDR. Sieben Jahre später fiel die Mauer, und es begann das Ende der DDR.
Leben Nr. 3 - nach dem Mauerfall
1992 widmete die Berlinale ihre Retrospektive der 80-jährigen Geschichte von Studio Babelsberg, die Publikation legte neue historische Grundlagen für eine Ortsbestimmung. Das Filmmuseum Potsdam publizierte 1994 die Dokumentation
Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg, ein Standardwerk. Das Studio war inzwischen Objekt der Treuhandanstalt und wurde für 130 Millionen DM an eine Tochtergesellschaft des französischen Mischkonzerns Compagnie Générale des Eaux (später: Vivendi) verkauft. Geschäftsführer der neuen Studio Babelsberg GmbH wurden Volker Schlöndorff und Pierre Couveinhes. Es entstanden Tochtergesellschaften, Investitionspläne, Spekulationsobjekte (das so genannte FX-Center ging mit 70 Millionen DM Schulden in die Insolvenz).
Es wurde entlassen, modernisiert und gearbeitet. Die Länder Berlin und Brandenburg installierten ihre Förderinstitution Filmboard (heute: Medienboard) auf dem Gelände. Die Ufa, Deutschlands größter Film- und Fernsehproduzent, kam als Nachbar und produziert seit 1995 im Studio den Daily-Soap-Hit
Gute Zeiten, Schlechte Zeiten. Es wurden ein touristischer Filmpark eingerichtet und auch einige Erfolgsfilme gedreht wie
Sonnenallee (Leander Haußmann, Deutschland 1999),
Der Pianist (The Pianist, Roman Polanski, Frankreich, Deutschland, Polen, Großbritannien 2002),
Die Bourne Verschwörung (The Bourne Soupremacy, Paul Greengrass, USA 2004). Die Hochschule für Film und Fernsehen "Konrad Wolf" baute ein repräsentatives Gebäude. Vivendi verabschiedete sich 2004 und ein Münchner Investorenduo mit Carl Woebcken und Christoph Fisser als Geschäftsführer übernahm. Die GmbH wurde zur AG und ging an die Börse. Es fiel schwer, bei der Immobilien- und Unternehmensgeschichte auf dem Laufenden zu bleiben. Man spricht von 60 Film- und Medienfirmen mit mehr als 1.500 festen und freien Mitarbeitern/innen.
Großunternehmen mit Weltrenommee
Das dritte Leben der Filmstadt Babelsberg ist nicht mehr geprägt von Lichtenergien oder politischen Leitungen, sondern von Kapazitäten und Auslastungen. Es gibt Schlagzeilen in der Berliner Presse, wenn Matt Damon, Tom Cruise, Brad Pitt, Kate Winslet, Vanessa Redgrave oder Cate Blanchett hier vor der Kamera stehen und Roman Polanski, Quentin Tarantino oder Roland Emmerich dahinter. Inzwischen wird auch in 3D gedreht, 2010 gab es den ersten Unternehmensgewinn, und kürzlich fiel die letzte Klappe beim 100-Millionen-Euro-Projekt
Der Wolkenatlas mit Tom Hanks, inszeniert vom Regie-Trio Lana und Andy Wachowski und Tom Tykwer.
Babelsberg: Das sind 2.000 Filme in 100 Jahren, das ist Fantasie, Handwerk, Geld, Politik, Kunst, Unterhaltung, Kino, Fernsehen, ein Ort deutscher Geschichte und internationaler Filmgeschichte. Wenn am 12. Februar gefeiert wird, ist der Filmpionier und Grundstücksentdecker Guido Seeber sicherlich dabei. Er sitzt in der Marlene-Dietrich-Halle auf Wolke 7 und sagt leise: "Glückwunsch!"
Literaturhinweise
Blumenberg, Hans-Christoph: Das Leben geht weiter. Der letzte Film des Dritten Reichs, Berlin 1993
Geis, Axel (Hrsg.): Filmstadt Babelsberg. Zur Geschichte des Studios und seiner Filme, Potsdam 1994
Hochschule für Film und Fernsehen (HFF) Konrad Wolf, Filmmuseum Potsdam, Studio Babelsberg (Hrsg.): 100 Years Studio Babelsberg/100 Jahre Studio Babelsberg, Potsdam 2012
Jacobsen, Wolfgang (Hrsg.): Babelsberg. Das Filmstudio, Berlin 1992
Sannwald, Daniela, Tilmann, Christina (Hrsg.): Die Frauen von Babelsberg. Berlin 2012
Schenk, Ralf (Red.): Das zweite Leben der Filmstadt Babelsberg. DEFA-Spielfilme 1946-92, Berlin 1994
Sudendorf, Werner (Hrsg.): Erich Kettelhut – Der Schatten des Architekten. Erinnerungen, München 2009.
Wahl, Chris: Sprachversionsfilme aus Babelsberg. Die internationale Strategie der Ufa 1929-1939, München 2009.
Autor/in: Hans Helmut Prinzler, Filmhistoriker, ehemaliger Direktor des Filmmuseums Berlin (2000-2006), Direktor der Sektion Film- und Medienkunst der Akademie der Künste Berlin (1998-2009), Kurator beim Hauptstadtkulturfonds Berlin (seit 2010), 07.02.2012
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